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Helene Ginsberg, geb. de Levie, *1888

Flucht 1937 Holland verhaftet 4.8.1942 interniert Westerbork
deportiert 18.5.1943 ermordet in sobibor


Hohenlohestraße 16
Bremen-Schwachhausen


Hohenlohestraße 16 - Weitere Stolpersteine:


Helene Ginsberg


Familienbiografie
Max Ginsberg
Helene Ginsberg, geb. de Levie

Max Ginsberg wurde in Nendorf/Kreis Stolzenau als drittes von vier Kindern geboren. Sein Vater Hermann (Hirsch) Ginsberg, geb.1849, stammte aus einer seit Ende des 18. Jahrhun- derts in Rahden im westfälischen Kreis Lübbecke ansässigen Viehhändlerfamilie. Nach seiner Heirat mit Julie Meyer (geb. um 1848) ließ sich Hermann Ginsberg zunächst als „Handelsmann“ im Kreis Stolzenau, der Heimat seiner Frau, nieder, wo die drei ältesten Kinder zur Welt kamen. Der jüngste Sohn wurde 1880 in Rahden geboren, wohin Hermann Ginsberg mit seiner Familie zurückgekehrt war.

Wie die meisten männlichen Familienmitglieder wurde Max Ginsberg Viehhändler. Am 29.11.1908 heiratete er in Jever, der Heimatstadt seiner Frau, Helene (Lene) de Levie. Auch Helene stammte aus einer Viehhändlerfamilie, deren Ursprünge in den Niederlanden lagen. Wie viele holländische Juden hatte es ihren Vater Hartog de Levie (geb.1857) aus einer Kleinstadt in der grenznahen Provinz Groningen in eine größere Stadt im benachbarten Ostfriesland gezogen. In Jever war er zu Wohlstand und hohem Ansehen gekommen, u.a. war er ein bedeutender Förderer der dortigen Synagogengemeinde. Aus seiner Verbindung mit der aus Westfalen stammenden Alwine Herz, geb.1859, waren sechs Kinder hervorgegangen, von denen Helene, geb. am 19.6.1888, das zweitälteste war. Der jüngste Sohn fiel als Kriegsfreiwilliger 1914 im Ersten Weltkrieg. Von den Söhnen der Familie ist bekannt, dass sie alle das Mariengymnasium in Jever besuchten, über den Bildungsgang der Töchter ist nichts in Erfahrung zu bringen.

Max und Helene Ginsberg ließen sich zunächst in Rahden nieder, wo 1909 und 1912 die beiden Kinder Günter und Leonore geboren wurden. Schon in seiner Heimatstadt war der junge Viehhändler beruflich erfolgreich gewesen, denn er hatte sich dort in Bahnhofsnähe bereits ein eigenes Haus mit Stallungen bauen lassen. Trotzdem verließ er Rahden im Sommer 1918, um in Bremen einen Neuanfang zu wagen. Sein älterer Bruder Sally war bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus Rahden fortgezogen und hatte sich in der Nähe von Bremen als Viehhändler selbständig gemacht. Bald nach Kriegsende zogen auch Helenes Eltern und ihr jüngerer Bruder, der Viehhändler Alfred de Levie, nach Bremen: beide sind ab 1920 mit eigener Anschrift im Bremer Adressbuch zu finden, Hartog de Levie bereits als „Rentier“. Er starb 1923 in Bremen und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hastedt beigesetzt.

In Bremen meldete Max Ginsberg 1918 einen Viehhandelsbetrieb an und kaufte in der Hohenlohestraße ein repräsentatives Haus. Später erwarb er am Lehester Deich vor den Toren der Stadt eigenes Weideland für sein Vieh und pachtete auch Weideland bei Rechtenfleth an der Weser. Die 13 Zimmer des Hauses in der Hohenlohestraße 16 stattete Helene Ginsberg im Laufe der Jahre mit ausgesuchten Antiquitäten, Möbeln, Kunstwerken und Orientteppichen aus. Das Ehepaar war an bildender Kunst und Literatur interessiert. Helene Ginsberg veranstaltete in ihren Räumen regelmäßig Abendgesellschaften, zu denen sie Künstler und literarisch Interessierte einlud.

Max Ginsberg stieg bald zu einem der vermögendsten Viehhändler Bremens auf, 1927 ließ er seine Firma ins Handelsregister eintragen. Zeugen schildern Max Ginsberg als einen integren und unermüdlich tätigen Geschäftsmann, der, obwohl sparsam und bescheiden für sich selbst, doch hilfsbereit und großzügig gegen andere gewesen sei. Man habe ihn nur selten zu Hause antreffen können, da er „um 5 Uhr in der Frühe auf Geschäftstour zu gehen pflegte, und zwar vornehmlich mit einem Fahrrad, obwohl er 2 Personenwagen besessen habe“.

Der Sohn Günter hatte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30.1.1933 im März desselben Jahres an der Universität Hamburg noch seinen juristischen Doktorgrad erwerben können. Er hatte sich auf Rechtsfragen des Viehhandels spezialisiert, dazu auch schon Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften publiziert und wollte dieses Rechtsgebiet zum Schwerpunkt einer zukünftigen Anwaltstätigkeit machen. Diese Perspektive zerschlug sich jäh, als er Anfang April 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums als Jude aus dem Rechtsreferendariat entlassen wurde.

Unter der zunehmenden Diskriminierung der Juden in Deutschland bereiteten sich die Ginsbergs, was bei den familiären Wurzeln der de Levies nahelag, zunehmend auf die Emigration in die Niederlande vor: Als Erster ging 1933 Günter, zunächst begleitet von seiner Mutter, nach Utrecht. In den Niederlanden wurde sein deutsches Staatsexamen jedoch nicht anerkannt. Nach dem Erlernen der holländischen Sprache wiederholte er deshalb sein Jurastudium an der Universität Utrecht und schloss es 1937/38 ab. Er kehrte zunächst noch häufig für mehrere Wochen und Monate nach Bremen zurück, u.a. um den Vater im Geschäft zu unterstützen. Auch trafen sich Vater und Sohn anfangs noch regelmäßig auf dem Viehmarkt im grenznah gelegenen Dinslaken. Nachdem aber Günter bei einem seiner Besuche in Bremen bei der Gestapo denunziert worden war, mied er Deutschland für immer und blieb ab 1935 endgültig in Utrecht. 1938 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt.

Seine Schwester Leonore, die in Bremen die staatliche Kunstgewerbeschule besuchte, musste diese ohne Abschluss verlassen und konnte ihr Berufsziel, Bildhauerin zu werden, nicht weiter verfolgen. Sie heiratete den aus den Niederlanden stammenden Gerard Volmer, einen nichtjüdischen Assistenzarzt am St.Joseph-Stift, und folgte ihm 1937 in seinen Heimatort Wolphaartsdyk in der Provinz Zeeland. Mit der Eheschließung war sie niederländische Staatsbürgerin geworden und auch zum Christentum übergetreten.

Nach dem Boykott jüdischer Unternehmenn am 1.4.1933 brach der Umsatz des Viehhandels der Familie Ginsberg in den folgenden Jahren um die Hälfte ein. 1936/37, nachdem Max Ginsberg aus nichtigem Anlass von der Gestapo verhaftet worden war und nur gegen Zahlung einer hohen Geldstrafe wieder freikam, verkaufte er sein Haus und das Weidegrundstück unter Wert und meldete am 17.4.1937 sein Gewerbe in Bremen ab. Einen Monat später verließen Max und Helene Ginsberg Deutschland gegen Zahlung einer Reichsfluchtsteuer von mindestens 25.000 RM. Sie zogen nun auch in die Niederlande, wo sie sich in Waddinxveen, in der Nähe von Gouda in der Provinz Südholland niederließen.

Nach und nach emigrierten auch Helene Ginsbergs Schwestern Rieka Philipps und Hendrina Dreifuss mit ihren Ehemännern sowie die Mutter Alwine de Levie in die Niederlande, wo die jüngste Schwester Frieda Zondervan, die mit einem Niederländer verheiratet war, in Utrecht schon länger lebte. Helene Ginsbergs Bruder Alfred war es bereits gelungen, mit seiner Familie nach Argentinien auszuwandern, wo er versuchte, sich eine berufliche Existenz als Landwirt aufzubauen. Aus dem erhaltenen Briefwechsel mit seinen Angehörigen geht hervor, wie verzweifelt die in den Niederlanden verbliebenen Verwandten nach dem Überfall der Wehrmacht im Mai 1940 auf eine baldige Ausreise nach Argentinien hofften. Doch die unter dem deutschen Besatzungsregime einsetzende Verfolgung der Juden machte ihre Hoffnungen zunichte: Fast alle Familienmitglieder wurden von August 1942 bis September 1943 im Durchgangslager Westerbork interniert. Am 18.5.1943 wurden Max und Helene Ginsberg von dort im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Max und Helene Ginsbergs Tod wurde daher auf den 21.5.1943, den Ankunftstag ihres Zuges, datiert. Von den 2.511 Menschen dieses zwölften Transportes von Westerbork nach Sobibor überlebte niemand.

Helene Ginsbergs Schwester Hendrina war bereits einige Tage zuvor in Sobibor umgebracht worden, ihre 84-jährige Mutter zwei Monate später. Ihre Schwester Rieka konnte noch bis September 1943 einer Verhaftung entgehen. Erst bei der letzten großen Razzia in den Niederlanden wurde sie gefasst und gleich nach ihrer Ankunft im Durchgangslager Westerbork in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Helene Ginsbergs jüngste Schwester Frieda überlebte im Versteck in den Niederlanden, ihr Bruder Alfred im Exil in Argentinien. Er verließ jedoch das Land wegen der Militärdiktatur in den 1970er Jahren und fand mit seiner Familie in Israel eine neue Heimat. Max Ginsbergs älterer Bruder Sally war bereits 1937 in Bassum gestorben. Seine Schwester Johanna wurde über das Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Nur sein jüngster Bruder Adolph konnte sein Leben durch Emigration retten.
Die beiden Kinder von Max und Helene Ginsberg haben überlebt: Günter Ginsberg – der nach dem Krieg die niederländische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und sich fortan Govert van Ginsbergen nannte – hatte unter dramatischen Umständen in letzter Minute auf die niederländischen Antillen fliehen können. Auf der Insel Curacao wurde er als Staatenloser zunächst interniert und musste dort Zwangsarbeit leisten. Nachdem er seine Freilassung aus dem Lager erkämpft hatte, ließ er sich zunächst auf den Antillen als Rechtsanwalt nieder, konnte dort aber nie wirklich heimisch werden. Er versuchte dann, an unterschiedlichen Orten rund um den Globus Fuß zu fassen – darunter für kurze Zeit auch in seiner Heimatstadt Bremen – bevor er sich Ende der 1960er Jahre endgültig in Brüssel niederließ.

Leonore Volmer, geb. Ginsberg, vertraute nicht auf den vermeintlichen Schutz ihrer „privilegierten Mischehe“, sondern tauchte mit Hilfe ihres Mannes rechtzeitig vor den Massendeportationen in den Niederlanden unter und überlebte im Versteck. Anfang der 1950er Jahre wanderte auch sie mit ihrer Familie in die niederländischen Überseegebiete aus.

Verfasserin:
Christine Nitsche-Gleim (2017)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E10501, 4,54-E4061, 4,54-E4060, 4,54-E10451, 4,54-Ra552, Einwohnermeldekartei
Stadtarchiv Bassum BA123009
Stadt- und Kreisarchiv Nienburg, Bestand Amt Stolzenau, Geburtslisten der Synagogengemeinde Stolzenau, lfd. Nummer 175
Stadt- und Kreisarchiv Nienburg, Geburtsregister 1874-1879
www.yadvashem, Gedenkseiten
www.yadvashemviewer10646182_83
Happe, Katja: Deutsche in den Niederlanden 1918-45, Münster 2008, unter: www.uni-muenster.de/NiederlandeNet

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Arisierung"
Glossarbeitrag Auswanderung
Glossarbeitrag Westerbork