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Erich Harf, *1905

„SCHUTZHAFT“ 1938 SACHSENHAUSEN, DEPORTIERT 1941, MINSK
ERMORDET


Neuenlander Straße 20
Bremen-Neustadt

Verlegedatum: 13.10.2020


Neuenlander Straße 20 - Weitere Stolpersteine:


Erich Harf

Erich Harf

Familienbiografie
Erich Harf
Lucie Harf, geb. Ginsberg, verw. Samuel
Hans Günter Harf
Martin Samuel

Erich Harf war der Sohn von Siegmund und Grete Harf, geb. Rose, und kam am 29.4.1905 in Syke zur Welt, sein Bruder Fritz gleichfalls dort 1907.

Seit 1878 war die Familie Harf in Syke beheimatet und betrieb hier erfolgreich ein Viehhandelsgeschäft. Ursprünglich kam sie aus Wickrath, dem Geburtsort von Erichs Vater. Seine Mutter stammte aus Sulingen. Sein Vater hatte den vom Großvater Lazarus gegründeten Betrieb um 1900 übernommen und auf das gesamte Reichsgebiet ausgeweitet. Es dürfte eine der größten Viehhandlungen in Nordwestdeutschland gewesen sein.

Die Familie war in die örtlichen Gesellschaft integriert; das drückte sich u.a. darin aus, dass alle Männer der Familie Harf Mitglied im Syker Schützenverein waren. Erich Harf erzielte beim Schützenfest 1930 den „besten Schuss“, so dass er „sich damit die Königswürde für das Jahr 1930/31 erwarb“. Als sein Großvater Lazarus 1931 starb, wurde er unter großer Beteiligung aus allen Kreisen der Syker Bevölkerung auf dem jüdischen Friedhof zu Grabe getragen. Ein großer Trauerzug habe sich durch die „Straßen der Stadt zum Gottesacker“ bewegt, berichtete die Syker Zeitung.

Lucie Ginsberg, verw. Samuel, war ab 1936 in zweiter Ehe mit Erich Harf verheiratet. Sie stammte aus Dierdorf (Kreis Neuwied), geboren dort am14.11.1903 als Tochter von Adolf und Emma Ginsberg, geb. Löbenberg. Ihr Vater war Lehrer und Kantor in der Jüdischen Gemeinde Dierdorf. Aus ihrer ersten Ehe mit Max Samuel stammte ihr Sohn Martin, der am 18.4.1931 in Bernburg geboren worden war. Vom Schicksal seines Vaters ist nur bekannt, dass er 1936 nicht mehr lebte.

Hans Günter Harf, geb. 30.8.1931, war Erich Harfs Sohn aus dessen erster Ehe mit Resi Bärmann (geb. 1910 in Essen). Die 1930 in Essen geschlossene Ehe war 1936 geschieden worden. Seine Mutter emigrierte über Wien nach Quito/Ecuador. Ab 1953 lebte sie als Resi Jonson in Richmond/USA.

Erich Harf trat nach seinem Schulabschluss in das Viehhandelsgeschäft seines Vaters ein. 1930 ging er mit seiner ersten Ehefrau nach Achim, um dort eine Zweigniederlassung des väterlichen Geschäftes zu gründen. Er meldete das Gewerbe auf seinen Namen an. Betrieb und Wohnung befanden sich in der Bahnhofstraße 440. Mit Beginn der Boykottmaßnahmen durch die Nationalsozialisten verschlechterte sich seine wirtschaftliche Lage zunehmend. Ende 1937 wurde ihm auf Drängen des Viehwirtschaftsverbandes Weser-Ems im Reichsnährstand die Ausübung des Berufs untersagt. Die Handelserlaubnis wurde ihm endgültig zum 17.7.1938 entzogen.

Im September 1936 zog er – inzwischen geschieden – mit Sohn Hans Günter nach Bremen und wohnte vorübergehend bei seinen Eltern im Fedelhören 32. Im Oktober 1936 heiratete er Lucie Samuel. Noch im selben Monat bezog das Ehepaar mit den beiden Söhnen eine Wohnung in der Neuenlander Straße 20, in der sie bis August 1940 bleiben konnten. Nachdem Erich Harf Berufsverbot erhalten hatte, wurde er vom Arbeitsamt an Hoch- und Tiefbaufirmen vermittelt. Dasselbe galt auch für seinen Bruder Fritz. In der Reichspogromnacht 1938 wurde er verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, wo er bis Mitte Dezember interniert war. Nach der Entlassung betrieb er die Auswanderung. Es gelang ihm, für sich Einreisepapiere für die Dominikanische Republik zu erhalten. Der Speditionsfirma Bachmann wurde ein Lift Umzugsgut mit Ziel Santo Domingo übergeben, der u.a. eine volle Tropenausrüstung für die gesamte Familie enthielt (Tropenhelme, Tropenbekleidung, Moskitonetze, Hängematten) sowie landwirtschaftliche Gerätschaften. Die Ausreise verzögerte sich jedoch, da noch die erforderlichen Papiere für seine Ehefrau und die beiden Söhne fehlten. Durch Kriegsbeginn und Kriegsverlauf zerschlugen sich dann die Fluchtpläne.

Am 1.8.1940 musste die Familie die Wohnung in der Neuenlander Straße verlassen. Nach kurzem Aufenthalt bei Erich Harfs Eltern in der Westerstraße 28 kam sie ab dem 5.9.1940 im „Judenhaus“ Gröpelinger Deich 50 unter. Am 18.11.1941 wurden Erich und Lucie Harf mit ihren beiden Söhnen Hans Günter und Martin in das Ghetto Minsk deportiert. Seine Eltern Siegmund und Grete Harf befanden sich gleichfalls unter den nach Minsk Deportierten.

Im Ghetto Minsk war von der nationalsozialistischen Kommandatur zur „Selbstverwaltung“ ein „Judenrat“ mit einem „Judenältesten“ eingesetzt worden. Der erste Vorsteher war Dr. Edgar Franck aus Hamburg. Er starb am 8.3.1942 an den Folgen von Folter und Misshandlungen. Zu seinem Nachfolger wurde Erich Harf bestimmt, der bereits sein Stellvertreter gewesen war. Über sein Wirken sind nur rudimentäre Notizen vorhanden. Es gibt eine Niederschrift des Generalkommissars für Weißruthenien Wilhelm Kube, dass Harf sich darüber beschwert habe, dass „[...] ihm ein Altparteigenosse gedroht hat zu prügeln und ihm notfalls eine Kugel durch die Rippen zu jagen“. Auch in den Tagebuchaufzeichnungen von Berthold Rudner, einem Berliner Juden, taucht am 12.5.1942 sein Name auf, nachdem ein Offizier angeschossen worden war: „Der Lagerleiter Harf und 12 Mann wurden verhaftet und mußten stundenlang mit dem Gesicht zur Wand auf dem Korridor der SS zubringen, bis er und die Seinen enthaftet wurden, da der Schuß von einem Soldaten ausgegangen sein soll.“ Erich Harf wurde im Sommer 1942 ermordet, die näheren Umstände sind nicht bekannt.

Das Schicksal von Lucie Harf und den beiden Söhnen ist nicht bekannt. Sofern sie nicht den unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto Minsk erlagen, fielen sie einer der Massenmordaktionen zum Opfer, die Ende Juli 1942 begannen. Auch die Eltern Erich Harfs überlebten die Deportation nicht.

Fritz Harf, sein Bruder, lebte durch seine Heirat mit einer Protestantin in einer „privilegierten Mischehe“ und war dadurch zunächst vor einer Deportation geschützt. Als dieser Schutz nicht mehr anerkannt war, sollte er im Februar 1945 in das Ghetto Theresienstadt deportiert werden. „Durch einen gewollten Unglücksfall versengte ich mir das Bein mit heissem Wasser, um mich dadurch der Deportation entziehen zu können. Mein Bein war dick geschwollen und lt. ärztlichem Attest von Dr. Neumark war ich transportunfähig.“ Er wurde daraufhin in ein Krankenhaus in Hamburg eingewiesen. Nach kurzer Genesungszeit entwich er und tauchte bis Kriegsende in Kirchseelte unter. Er verstarb 1969 in Bremen.

Die Eltern von Lucie Harf wurden 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und verstarben dort. Ihre Schwester Ruth, verheiratete Meyer, wurde 1941 mit ihrem Sohn in das Ghetto Minsk deportiert, wo beide ihr Leben verloren. An sie alle erinnern Stolpersteine in der Nordstraße/in Höhe der Haltestelle Grenzstraße.

Peter Christoffersen (2020)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E4211, 4,54-E9976, 4,54-E11003, 4,54-E776, 4,54-Rü6175, 4,54-Rü5411, 4,54-Rü5412, 4,66-I-7839, Einwohnermeldekartei
Greve, Hermann: Stolpersteine. Der Erinnerung einen Namen geben, Syke 2007
Christoffersen, Peter: „Es war ein einziges Grauen“, in: ders./Johr, Barbara (Hrsg.): Stolpersteine in Bremen, Schwachhausen/Horn-Lehe, Bremen 2017

Abbildungsnachweis: Privat

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Minsk