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Glossar

"Polenaktion" 27.-29.10.1938

Nach dem "Anschluss" Österreichs und der Besetzung des Sudetenlandes 1938, befürchtete Polen eine verstärkte Rückwanderung verarmter polnischer Staatsangehöriger jüdischen Glaubens. Um dem vorzubeugen, verabschiedete das polnische Parlament am 31. März 1938 ein Gesetz, nach dem allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland gelebt hatten, die Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte, da sie "ihre Verbindung zur polnischen Nation" verloren hätten. Die polnische Regierung erlag mit dieser Maßnahme einer verhängnisvollen Fehleinschätzung, die die Skrupellosigkeit der deutschen Reichsregierung nicht erkannte. Die Situation eskalierte, als das polnische Innenministerium am 6.10.1938 anordnete, dass alle im Ausland lebenden polnischen Bürger die Gültigkeit ihres Passes in den Konsulaten zu bestätigen hätten, andernfalls wäre ein Grenzübertritt nach dem 29.10.1938 nicht mehr möglich.

Der Vorwand für die Ausweisung war geliefert, da sonst „die in Deutschland lebenden zahlreichen polnischen Juden dauernd in Deutschland geduldet werden müssten“. So Heydrich in Vertretung des Reichsführers SS Himmler am 26.10.1938. Er „ersuchte“ die Ausländerbehörden zum 29.10.1938 unverzüglich entsprechende Aufenthaltsverbote auszusprechen. Diese reagierten umgehend, konnten sie doch auf entsprechende Registrierungslisten zurückgreifen. Im Reichsgebiet lebten seinerzeit etwa 56.000 polnische Juden.

Vom 27. bis 29. Oktober begannen, für die Betroffenen überwiegend völlig überraschend, die Abschiebungen. Nach ihrer Verhaftung wurden sie in Zügen hauptsächlich zu den Grenzorten Konitz (Chojnice/Pommern), Neu-Bentschen (Zbąszyń/Posen) und Beuthen (Bytom/Oberschlesien) gebracht und über die Grenze abgeschoben. Da ein „geordneter“ Grenzübertritt bald nicht mehr möglich war, wurden die Menschen teils mit Gewalt über die „grüne Grenze“ getrieben. Jede Person durfte nur 10 RM bei sich führen, die Mitnahme von Handgepäck wurde überwiegend geduldet, dennoch kam es auch zu Ausplünderungen durch deutsche Schlägertrupps. Vermutlich weit mehr als 17.000 Menschen wurden Opfer dieser Aktion.

In Bremen wurden die Betroffenen überwiegend am 27. Oktober verhaftet und in Gefängnisse gebracht. Am 28. wurden sie im Lloydbahnhof (Empfangsgebäude für den Auswandererverkehr nach Bremerhaven östlich der Bahnhofshalle) zusammengeführt und deportiert. Der Bürgermeister berichtete dem Reichsführer SS: „Die Juden sind am 29. Oktober 1938 bei Fraustadt auf polnisches Gebiet überstellt worden“. Die offizielle Abschiebeliste weist die Namen von 80 Personen auf. Die Bremer Nachrichten berichteten nicht über die Abschiebung. Erst am 1.11.1938 findet sich eine Notiz, in der auf deutsch-polnische Verhandlungen hingewiesen wurde, infolgedessen „die beiderseitigen Maßnahmen der Ausweisung“ eingestellt worden seien.

Die Abgeschobenen kehrten vielfach in ihre ursprünglichen polnischen Heimat- oder Geburtsorte zurück oder kamen anfangs in Sammellager in den größeren Städten unter. Nach der Besetzung Polens fielen sie mehrheitlich der Judenvernichtung zum Opfer. Von einigen ist bekannt, dass sie zuvor in Ghettos leben mussten. Überwiegend verliert sich ihre Lebensspur im Ungewissen. Von 19 Personen, die aus Bremen abgeschoben worden waren, ist die Einweisung in ein KZ bekannt, davon überlebten vier; 13 Personen gelang die Flucht ins Ausland.


Quellen / Weitere Informationen:
Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung, Warschau 1998/Osnabrück 2002

Benz (Hrsg.), Lexikon des Holocaust, München 2002

Regina Bruss, Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus, Bremen 1983

Günther Rohdenburg (Bearb.), »Judendeportationen« von Bremerinnen und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, 2. überarb. Aufl., Bremen 2009

Bremer Nachrichten v. 1.11.1938 (S. 2)


Peter Christoffersen (2021)


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