Sie befinden sich hier | Kapitelüberschrift  Glossar
Schriftgroesse verkleinern Schriftgroesse normal Schriftgroesse vergrössern
Diese Seite ausdrucken

Glossar

Die Vertreibung der Juden aus Ostfriesland und Oldenburg

Der auffällige Zuzug jüdischer Familien nach Bremen im Frühjahr 1940 ist überwiegend auf die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Ostfriesland und Oldenburg zurückzuführen.

Die NS-Propaganda verstieg sich in der Behauptung, Ostfriesland sei "verjudeter" als irgendein anderes Gebiet in Deutschland und schürte damit unablässig den Rassenhass. Tatsächlich lag der Anteil der Juden 1925 in Ostfriesland bei lediglich 0,84 % der Bevölkerung (Reichsdurchschnitt: 0,9 %). Der Anteil in den größeren Städte: Emden (700 Personen - 2,2 % d. Bev.), Aurich (398 P. - 6,5 %), Leer (289 P. - 2,4 %) und Norden (231 P. - 2,1%).

Ostfriesland entwickelte sich früh zu einer Hochburg der NSDAP. Bereits 1931 riefen die Auricher Nationalsozialisten zu einem Boykott jüdischer Geschäfte zu Weihnachten auf. Den Aprilboykott 1933 bereitete die OTZ (Ostfriesische Tageszeitung - das amtliche Organ der NSDAP und sämtlicher Behörden Ostfrieslands im Gau Weser-Ems) mit Schlagzeilen wie "Vergeltung am jüdischen Gastvolk!" oder "Wir zwingen Alljuda in die Knie" und am Boykotttag mit "Judas Stunde hat geschlagen" vor. Bereits vor Erlass der "Nürnberger Gesetzte" wurden in Norden Personen öffentlich als "Rasseschänder" unter dem Beifall der Bevölkerung entwürdigend diffamiert. Zum 20.7.1933 erschien die OTZ mit einer großen Sonderbeilage "Die Juden sind unser Unglück".

Der Rassenhass kulminierte erstmals in der Novemberpogromnacht. Überall in Ostfriesland wurden die jüdischen Familien aus dem Schlaf gerissen und teilweise in Viehhallen und Schlachthöfen zusammengetrieben, misshandelt, ihr Eigentum demoliert und beschlagnahmt. In Emden trugen mehrere jüdische Bürger Schussverletzungen davon, ein Mann erlitt einen tödlichen Lungendurchschuss. Knapp 250 Männer aus den ostfriesischen Städten und Landgemeinden wurden anschließend in Oldenburg kaserniert. Zusammen mit den verhafteten Männern aus den Bereichen Wilhelmshaven, Oldenburg und Bremen wurden 938 Männer in das KZ Sachsenhausen deportiert. Nach einer Bilanz der Gestapo Wilhelmshaven wurden in den ostfriesischen Landkreisen und Emden Sachwerte von über 300.000 RM beschlagnahmt und Bargeld in einer Summe von über 82.000 RM entwendet.

Ostfriesische Landräte und der Magistrat der Stadt Emden drängten ab 1939 den Regierungspräsidenten in Aurich, die noch ansässigen Juden zu vertreiben. Neben der grundsätzlichen Vertreibungspolitik war ihr weiteres Anliegen, die Juden aus ihren Wohnungen zu entfernen, um sie "Volksgenossen" zugänglich zu machen. "Arisierungen", gesetzliche Wohnraumbeschränkungen, Berufsverbote und Auswanderung hatten noch nicht zum erwünschten Abzug beigetragen. Landräte und Bürgermeister beriefen sich nun auf die neu erlassene Grenzzonenverordnung. Es bestehe höchste Spionagegefahr durch die Juden, die über zahlreiche verwandtschaftliche Beziehungen zu Holland verfügten. In Wilhelmshaven könnten die Schiffsbewegungen beobachtet oder der Eisenbahnverkehr mit Militärtransporten eingesehen werden. Realistischer beschrieb der Landrat von Aurich allerdings die Lage, der darauf hinwies, dass die finanziell gut gestellten Juden abgewandert seien und jetzt nur noch die "Minderbemittelten" zurückgeblieben seien, die irgendwann der Fürsorge zur Last fallen würden. Gleichlautend wiesen die kommunalen Antragsteller auf das im Alltag unerwünschte "dreiste" Auftreten der Juden hin, das nicht länger hingenommen werden könne.

Im Februar 1940 verfügte die Gestapo Wilhelmshaven, dass sämtliche Juden bis zum 1. April 1940 Ostfriesland, dem damaligen Regierungsbezirk Aurich, und das Land Oldenburg zu verlassen hätten. Die jüdischen Bürger Wildeshausens erhielten beispielsweise die Aufforderung, den Ort innerhalb von 14 Tagen zu verlassen. Es entsprach dem Charakter der Vertreibungsaktion, diese mit Hilfe der örtlichen Amtsträger durchzuführen.

Den Vorstehern der jüdischen Gemeinden wurde von der Gestapo vorab mitgeteilt, ihre Mitglieder hätten sich für den Abtransport nach Polen bereitzuhalten. Diese wandten sich daraufhin an Dr. Max Plaut, dem zuständigen Leiter der Bezirksstelle Nordwestdeutschland der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland", um Hilfe. Er nahm Verhandlungen mit der Gestapo Wilhelmshaven auf und konnte die Deportation in den Osten abwenden. Eine nennenswerte Anzahl der Betroffenen kam daraufhin in Berlin, Hamburg und Hannover unter, die übrigen zogen u.a. zu Verwandte in andere Orte, darunter auch Bremen.

Am 30.5.1940 berichtete die Gestapoleitstelle der Gauleitung der NSDAP in Oldenburg, das im Laufe der vergangenen Monate 843 Juden aus den Kreisen Ostfrieslands und Oldenburgs "abgewandert" seien. Es seien nur noch 150 alte Juden verblieben, die hauptsächlich in das jüdische Altersheim in Emden verbracht worden seien. Der Bericht endete mit der Feststellung: "Damit kann die Entjudungsaktion für den hiesigen Bezirk als abgeschlossen betrachtet werden".

Die Auslöschung einer traditionsreichen jüdischen Region in Niedersachsen war damit vollendet.


Quellen / Weitere Informationen:
Herbert Reyer, Die Vertreibung der Juden aus Ostfriesland und Oldenburg im Frühjahr 1940, in: Collectanea Frisica, Band 74, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1995

ders., Judenverfolgung und Novemberpogrom in Ostfriesland, in: Das Ende der Juden in Ostfriesland, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988

Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, hrsg. von Herbert Obenaus in Zsarb. mit David Bankier und Daniel Fraenkel, Göttingen 2005


Peter Christoffersen (2012)


Zurück