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Selma Zwienicki, geb. Stiefel, *1882

Pogromopfer
erschossen 10.11.1938


Hohentorstr.49/53 / Ecke Gr. Sortillienstr.
Bremen-Neustadt

Selma Zwienicki

Selma Zwienicki

Selma Zwienicki wurde als jüngstes Kind des Schumachers Koppel Stiefel (Jg. 1846) und seiner Frau Elise, geb. Cohen (Jg.1841), am 8.6.1882 in Hamburg geboren.

Nach einer Ausbildung zur Kindergärtnerin erlernte sie den Beruf einer kaufmännischen Sekretärin und arbeitete bis zur Eheschließung in Hamburg als Buchhalterin. Am 12.7.1916 heiratete sie den seit 1914 in Bremen lebenden Schlosser Josef Zwienicki (Jg.1892). Er stammte aus Zlatopol, Bezirk Tschyhyryn (heute Ukraine) und kam 1913 nach Deutschland. Er wurde als ausländischer Staatsbürger nicht zum Militärdienst im Ersten Weltkrieg eingezogen. Als 1922 die Sowjetunion gegründet wurde, verlor er seine russische Staatsangehörigkeit und wurde staatenlos. Das Ehepaar Zwienicki hatte vier Kinder: Gerd (Jg. 1917), Benno (Jg. 1918), Elise (Liesel) (Jg. 1921) und Alfred (Jg. 1925).

Existenzgrundlage der Familie war die seit September 1918 bestehende Fahrrad- und Motorradhandlung mit Werkstatt in der Hohentorstraße 49/53. Josef Zwienicki galt als Fachmann auf seinem Gebiet und produzierte sogar Fahrräder unter dem Namen „Republik“. Während er die handwerklichen Arbeiten erledigte, führte Selma die Geschäftsbücher und organisierte den Ein- und Verkauf. Sie war sehr hilfsbereit und bei Kunden wie Nachbarn beliebt. Zwienickis hatten einen großen Freundeskreis und hielten regen Kontakt zur Familie in Hamburg.

Das Geschäft lief so gut, dass sie im Oktober 1918 das bis dahin gemietete Doppelhaus erwerben konnten. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten1933 gingen durch den Boykott jüdischer Geschäfte die Umsätze derart zurück, dass ab 1937 kein Gewinn mehr erwirtschaftet werden konnte. Der älteste Sohn Gerd war das einzige der vier Kinder, das eine qualifizierte Schulbildung erhalten konnte. Nach der Grundschule besuchte er die Oberrealschule an der Dechanatstraße. Ermutigt von einem Lehrer, der ihm half durchzuhalten, machte er 1936 das Abitur. Ein Studium an der Torah Akademie Yeshiva in Frankfurt am Main und an einer privaten jüdischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg schlossen sich an. In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November wurde er dort für acht Tage in „Schutzhaft“ genommen.

In Bremen wurde seine Mutter eines der Opfer der Reichspogromnacht. In dieser Nacht waren das Ehepaar Zwienicki und die Söhne Benno und Alfred zu Hause in der Wohnung, die über dem Geschäft lag. (Die Tochter Liesel lebte inzwischen als Hausgehilfin in Hamburg). Als Josef Zwienicki gegen vier Uhr nachts heftigen Lärm von SA-Männern vor dem Haus hörte, fürchtete er um sein Leben und floh unbemerkt über die Dächer. Sie drangen in das Haus ein, hielten Benno im Hauseingang fest und trafen im Schlafzimmer auf seine Mutter. Als sie auf die Frage nach dem Verbleib ihres Mannes keine Auskunft gab und auch nicht geben konnte, wurde sie vom SA-Mann Joseph Heike angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Wohnung und Geschäft wurden demoliert: die Türen aufgebrochen, alle Scheiben eingeschlagen, Möbel zerstört, Silberwaren und Goldschmuck geplündert. Als die SA-Männer fort waren, schickte Benno seinen Bruder Alfred los, um einen Arzt zu holen. Weder kehrte Alfred zurück – SA-Männer verfolgten ihn – noch kam ein Arzt. Selma Zwienicki erlag ihren Verletzungen und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hastedt bestattet.

Josef Zwienicki hatte am 12. November Kontakt zu einem Nachbarn aufgenommen, doch dieser hatte nicht den Mut gefunden, ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau zu überbringen. Ein guter Bekannter der Familie verbarg ihn für zwei Wochen in einem Parzellenhäuschen, danach konnte er unbehelligt wieder in sein Haus zurückkehren. Sohn Gerd war inzwischen von Würzburg nach Bremen zurückgekehrt und hatte erst hier von den dramatischen Ereignissen in seiner Familie erfahren.

Sohn Benno war in den Morgenstunden des 10. November verhaftet und von der Kriminalpolizei zu den nächtlichen Vorgängen im Elternhaus vernommen worden. Das Vernehmungsprotokoll ist erhalten geblieben und belegt, dass Benno sicher war, er würde den Mörder seiner Mutter wieder erkennen. Doch diese Aussage interessierte nicht. Die Kriminalpolizei übergab ihn der Gestapo. Er wurde in „Schutzhaft“ genommen und in das KZ Sachsenhausen deportiert, wo er bis zum 22.1.1940 festgehalten wurde. Sohn Alfred ging am 29.11.1938 nach Hamburg, wo seine Schwester Liesel lebte.

Josef Zwienicki gelang es mit Hilfe eines Cousins, der bereits in Kanada lebte, mit seinen Söhnen aus Deutschland zu flüchten. Nachdem er das Fahrradgeschäft zum 6.12.1938 abgemeldet und das Haus an der Hohentorstraße zum Schleuderpreis von 1.200 RM verkauft hatte, erhielt er die Genehmigung zur Ausreise nach Kanada. Die polizeiliche Abmeldung der vier Flüchtlinge datiert vom 30.3.1939, aber erst am 31.5.1939 bestiegen sie in Hamburg die Fähre nach England, und am 2.6.1939 verließ die RMS Alaunia Europa. In Montreal ließen sie sich nieder, hatten jedoch jahrelang mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Josef Zwienicki verstarb am 20.12.1952.

Gerd Zwienicki zog weiter in die USA; er nahm den Namen Jacob G. Wiener an, schloss die Ausbildung zum Rabbiner ab, promovierte und war beruflich als Psychotherapeut sowie Erziehungs- und Sozial–wissenschaftler tätig. Er starb am 15.2.2011 in New York. Sein Bruder Benno war bereits im Juni 1951 durch einen Autounfall zu Tode gekommen. Der jüngste Bruder Alfred nannte sich Wynn und fuhr zur See; er starb 1986. Die Schwester Elise überlebte ihn um zwei Jahre und starb im Juli 1988.

Michael Cochu/Barbara Ebeling/Edith Laudowicz (2020)

Quellen und Literatur
StA Bremen 4,54-E3676, 4,54-E1180, 4.89/3,811, Einwohnermeldekartei
Arbeitsgemeinschaft Stadtteilgeschichte Bremen Neustadt: Jüdisches Leben in der Bremer Neustadt während der NS- Zeit, Bremen 2001; Lührs, Wilhelm u.a.: „Reichskristallnacht“ in Bremen, Bremen 1988
Rübsam, Rolf: Sie lebten unter uns. Opfer der„Reichskristallnacht“ in Bremen und Umgebung, Bremen 1988
Ders.: „Kinder dieser Stadt“. Begegnungen mit ehemaligen jüdischen Bremern, Bremen 2005
Christoffersen, Peter: Jüdische Kinder in den Schulen der NS-Zeit, in: Christoffersen, Peter/Johr, Barbara (Hrsg.): Stolper- steine in Bremen, Ostertor/Östliche Vorstadt, Bremen 2016
Wiener Jacob G. [Gerd Zwienicki]: Time of Terror - Road to Revival, Trafford Publishing 2010

Abbildungsnachweis: Staatsarchiv Bremen

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Novemberpogrom
Glossarbeitrag Auswanderung
Glossarbeitrag "Arisierung"