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Johanna Rose Leuwer, geb. Neumark, *1871

deportiert 1942 nach Theresienstadt
tot 8.2.1943


Kurfürstenallee 9
Bremen-Schwachhausen

Johanna Rose Leuwer

Johanna Rose Leuwer

"Vielleicht komme ich noch, aber ein alter Baum ist schwer zu verpflanzen. Egal, was passiert, man wird einer alten Dame, einer Frau wie mir, schon nichts tun. Was man mir Böses antun konnte, hat man bereits getan, auch will ich niemandem auf die Tasche fallen." Die Hoffnung Anni Leuwers, zitiert aus der Erinnerung ihres Sohnes Franz.

Johanna Rose (genannt Anni) Leuwer, geb. Neumark, wurde am 24.12.1871 in Bremen geboren und entstammte einer liberalen, assimilierten jüdischen Familie. Ihr Vater war der Malermeister Joseph Abraham Neumark; ihre Mutter Rosalie stammte aus der bekannten Hamburger Familie Ballin. Anni hatte drei Brüder: Adolf (1870-1946) war Arzt; Max (1875-1933) war Kunstmaler und Inhaber des väterlichen Malerbetriebes; Friedrich (1876-1957), genannt Fritz, war ein bekannter Architekt. Anni erhielt eine Ausbildung zur Dentistin.

Im Jahr 1893 heiratete sie in Bremen den jüdischen Kaufmann Hermann Mengers, mit dem sie später in Berlin lebte. Dort wurde 1894 ihre Tochter Rosita Ilse geboren. Die Ehe wurde 1896 geschieden. Anni Mengers kam nach Bremen zurück und betrieb am Schüsselkorb 9/10 eine eigene Praxis. Hier lernte sie den Bremer Buch- und Kunsthändler Franz Hendrik Leuwer kennen, den sie am 22.7.1911 heiratete. Zuvor war sie zur evangelischen Konfession konvertiert. Das Ehepaar wohnte in der Bismarckstraße 51. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor: Elisabeth Wilhelmine (geb. 1912), genannt Lisa, und Franz Josef (geb. 1916). Der 41-jährige Franz Leuwer starb am 9.4.1916 an Herzversagen, nur einen Monat nach der Geburt seines Sohnes.

Die Buch- und Kunsthandlung Franz Leuwer in der Obernstraße 14 galt als Institution in der Stadt. Sie war 1903 von Leuwer übernommen worden (vormals Buchhandlung Halem). Das Geschäft hatte Filialen auf Wangerooge, Borkum und Spiekeroog, betrieb zahlreiche Bordbuchhandlungen auf Passagierschiffen des Norddeutschen Lloyds, eine Leihbücherei sowie einen eigenen Verlag. Ab 1920 gab es zeitweise Filialen in der Falken- sowie in der Wachtstraße. Regelmäßige Besucher der Buchhandlung waren u.a. Rainer Maria Rilke, Rudolf A. Schröder, Heinrich Vogeler und Gustav Pauli (Kunsthallendirektor). Einen besonderen Ruf erwarb sich die Kunsthandlung durch den Verkauf und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Zeitweise waren bis zu 50 Angestellte bei Leuwer beschäftigt.

Nach dem Tod ihres Mannes erbte Anni Leuwer das Geschäft. Sie übertrug die Geschäftsführung dem Prokuristen Carl Emil Spiegel, der zusätzlich Anteile am Geschäft erwarb. 1917 wurde die Firma in eine OHG umgewandelt, an der sie zur Hälfte beteiligt war. Bereits 1933 drängte der Norddeutsche Lloyd auf eine „Arisierung“ des Unternehmens, da er in der jüdischen Eigentümerin der Bordbuchhandlungen eine Gefahr für das Ansehen der Reederei sah. Das Unternehmen wurde im selben Jahr an Spiegel vertraglich übertragen. Anni Leuwer erhielt für die Geschäftsräume 11.000 RM/p.a. und blieb als stille Gesellschafterin weiterhin an der Firma beteiligt. 1935 wurde dieser „Auseinandersetzungsvertrag“ pro forma aufgehoben. Ihr Bruder Fritz Neumark, als ihr Generalbevollmächtigter, teilte 1937 der Kleinhandelskammer mit, dass „keinerlei Rechtsansprüche gesellschaftsrechtlicher Art“ mehr bestünden. Die Kammer bestätigte, dass kein jüdisches Kapital mehr an der Firma „beteiligt“ sei. Zwischen Leuwer, Neumark und Spiegel gab es darüber hinaus interne Absprachen. So wurden z.B. auf ein geheimes Konto von Spiegel 20.000 RM für Anni Leuwer hinterlegt, das noch nach dem Krieg bestand. Die Häuser in der Obernstraße (Käufer Spiegel) und der Bismarckstraße wurden 1939 „arisiert“ (das Grundstück in der Obernstraße wurde 1950 an die Erben Leuwer rückübertragen).

Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Kinder bereits im Ausland. Ilse Mengers lebte seit 1933 in Palästina, wo sie 1935 in zweiter Ehe Mordechai Landau heiratete. Lisa Leuwer hatte während ihres Studiums zur Dolmetscherin (England, Schweiz) an der Universität in Perugia, wo sie ihr Examen ablegte, den Engländer Geoffrey David Hill kennengelernt. Sie heirateten 1935 – sie erwarb dadurch die englische Staatsangehörigkeit – und zogen nach England. An der Hochzeit nahmen auch Anni Leuwer und ihr Sohn teil. Franz hatte eine Buchhändlerlehre im väterlichen Betrieb absolviert und sollte später das Geschäft übernehmen. Die Abschlussprüfung an der Buchhändlerschule in Leipzig wurde ihm jedoch verwehrt. Da er als „Halbjude“ nicht in die Reichskulturkammer aufgenommen wurde, musste er 1935 aus dem Beruf ausscheiden. Von einem mit der Familie befreundeten Kaffeehändler bekam er die Möglichkeit, in einer Kaffeefirma in London zu arbeiten.

Im Handelshaus Hans von Feldmann, auch ein Freund seines Vaters, eignete er sich die Grundkenntnisse im Kaffeehandel an. Am 19.2.1938 verließ er Deutschland. Im Juli 1939 ging er als Freiwilliger zur britischen Armee, 1941 wechselte er zum britischen Geheimdienst. Dort arbeitete er unter Sefton Delmer in der „Psychological Warfare“-Abteilung und legte sich den Namen Frank Lynder zu. Nach dem Krieg war er als Journalist in Deutschland tätig, trat 1954 als Mitarbeiter in den Verlag Axel Springer ein und heiratete in zweiter Ehe 1956 die Schwester des Verlegers.

Am 7.4.1937 zog Anni Leuwer in die Kurfürstenallee 9 um. Das Haus gehörte dem vermögenden Baumwollhändler Ernst Cohn, der bereits 1935 ausgewandert war. In dem Buch- und Kunsthandlung Leuwer in der Obernstraße 14 wohnte ihr Bruder Fritz mit seiner Familie. Ihr Haus in der Bismarckstraße vermietete sie ab 1938 an den späteren Erwerber (R. Peters). Ihre Tochter Ilse besuchte sie mehrfach, da sie als britische Staatsangehörige ungefährdet war. Sie konnte ihre Mutter aber zunächst nicht zur Flucht aus Deutschland bewegen. Ilse erlebte die Reichspogromnacht 1938 durch Zufall mit. In einem Interview bei Radio Bremen 1988 schilderte sie die Situation:

"[...]Und in der Nacht [...] wurde mein Onkel verhaftet. Man kam in der Nacht, klopfte an die Tür [...] Er machte im Pyjama die Tür auf und musste ‚Hände Hoch!‘ und wurde sofort abgeführt, wie auch der älteste Neumark [...] Durch die Fürsorge des Hausmeisters, der sagte ‚Die alte Frau Leuwer, die da oben lebt, die kann nicht mehr so recht‘, blieb meine Mutter mit mir in der Wohnung. Es war schauerlich."

Im Mai 1939 war Anni Leuwer schließlich zur Emigration bereit, wie sie in einem Schreiben dem Finanzamt mitteilte. Ihr war bereits die Ausreisegenehmigung erteilt worden, als sie mit einem Magengeschwür in das St. Joseph-Stift eingeliefert wurde, wo sie mehrere Wochen verbrachte und beabsichtigte, noch eine Kur anzuschließen. „Als sie bereit war, herüber zu kommen, brach der Krieg aus[...]“, erinnert sich ihre Tochter Lisa.

Im März 1942 musste Anni Leuwer ihre Wohnung verlassen und in das „Judenhaus“ Franz-Liszt-Straße 11a einziehen. Immerhin stand ihr dort noch eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad zur Verfügung. Einen Teil ihrer Einrichtungsgegenstände konnte sie mitnehmen, darunter war auch ein Bestand mit wertvollen Büchern und Bildern. Als das Haus durch eine Bombe beschädigt wurde, zog sie sich eine Verletzung über dem Auge zu.

Anni Leuwers Vermögen war bis zu ihrer Deportation vollständig konfisziert. Aus dem Verkauf des Hauses in der Bismarckstraße blieben nach Ablösung einer Hypothek nur noch 2.000 RM übrig. Vom Erlös aus dem Verkauf der Buchhandelsimmobilie in der Obernstraße musste sie nach Ablösung einer Hypothek nahezu 50.000 RM an „Judenvermögensabgabe“ leisten. Ihr restliches Vermögen, 56.000 RM, war 1942 an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland abzuführen. Teile ihres wertvollen Schmucks, Tafelsilber und auch Gemälde hatte sie zuvor bei nichtjüdischen Freunden untergebracht.

Nach ihrer Deportation wurden die vorhandenen Einrichtungs- und Wertgegenstände beschlagnahmt und einer Auktion übergeben. Freunde der Familie wollten Gegenstände durch Ersteigern sichern, wurden aber nicht zur Auktion zugelassen. Anni Leuwers Sohn Frank Lynder wurde nach dem Krieg berichtet, dass die Auktion „eine geschlossene Angelegenheit nur für Parteimitglieder“ gewesen sei. Ihre letzte Postkarte an ihre Freundin Inge Haefeli in der Schweiz ist mit dem Datum ihres Deportationstages datiert, dem 23.7.1942:

"Meine liebe gute Inge, gestern kam deine liebe Karte, war so schön, daß ich die noch bekam, denn morgen muß ich verreisen, Fred wollte es dir sagen, hat er geschrieben? Ich bin tief unglücklich und ganz verzweifelt. Kannst du mir nicht helfen, bitte bitte versuche doch Alles. Wie werden die Kinder entsetzt sein und Lisa bei ihrem Zustand. Betet für mich und helft mir. Ich habe Euch von Herzen lieb. Küsse Euch innig."

Ihre Freundin Bertha Berla erlebte die Vorbereitungen ihrer Deportation mit:

"Vor ihrer Abreise wurden in einige Kisten Bücher und Leinen verpackt. Man hatte Frau Leuwer vorgegaukelt, dass sie diese Sachen mit nach Theresienstadt nehmen könnte und sie wollte dort ihre Bücher einer Bibliothek [...] zur Verfügung stellen. [...] Frau Leuwer [...] hatte sich sogar, bevor sie nach Theresienstadt abreisen musste, noch Garderobe anfertigen lassen. Ihre Garderobe, darunter zwei Pelzmäntel und ein Wintermantel, an die ich mich deshalb noch so gut erinnere, weil ich selbst diese drei Mäntel ineinander gesteckt habe, um sie dann zu verpacken, Bettwäsche mindestens sechsfach zum wechseln, [...] Matratzen und Tischwäsche wurden in Koffer verpackt oder, wie z.B. Matratzen und Steppdecken, in Leinensäcke eingenäht. Auch diese Koffer und Säcke hat Frau Leuwer in Theresienstadt niemals wiedergesehen. [...] Als Frau Leuwer ihr Haus verließ, nahm sie nur einen Rucksack und einen kleinen Koffer mit."

Im 71. Lebensjahr wurde Anni Leuwer mit 163 weiteren Bremern, überwiegend Bewohner des Jüdischen Altersheimes, in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Am 8.2.1943 erlag sie dort den Entbehrungen und verstarb im Beisein von Max Meyer, einem Bremer Uhrenhändler (Sögestraße 29). Der Lagerarzt vermerkte als Todesursache „Darmkatarrh, Enteritis“ (Darmentzündung).

Anni Leuwers Bruder Fritz Neumark wurde während der Reichspogromnacht 1938 verhaftet, konnte aber 1939 nach England flüchten. Ihr Bruder Adolf wurde gleichfalls in der Pogromnacht verhaftet. Er war im Februar 1945 zur Deportation nach Theresienstadt vorgesehen, konnte aber rechtzeitig untertauchen. Max Neumark verstarb am 11.4.1933.

Peter Christoffersen (2017)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E2533, 4,54-Ra567, 4,54-Ra2060, 3-J5 Nr. 100, 7,500-480, 10,B AL-1801, Einwohnermeldekartei
Arbeitskreis (Hg.): Lebensgeschichten: Schicksale Bremer Christen jüdischer Abstammung nach 1933, Bremen 2009
Aschenbeck, Nils: 100 Jahre Buch- und Kunsthandlung Franz Leuwer, Bremen 2003
ders., Agent wider Willen, Wiesbaden 2012

Abbildungsnachweis: Privatbesitz

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Christen jüdischer Herkunft
Glossarbeitrag Rassengesetzgebung
Glossarbeitrag "Arisierung"
Glossarbeitrag "Judenhäuser"
Glossarbeitrag Theresienstadt