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Abraham Singer, *1881

ausgewiesen 1938 nach Polen
Schicksal unbekannt


Sebaldsbrücker Heerstr. 107/im Einfahrtsbereich
Bremen-Hemelingen
ehemalige Straßenbezeichnung: Sebaldsbrücker Heerstr. 89


Sebaldsbrücker Heerstr. 107/im Einfahrtsbereich - Weitere Stolpersteine:


Abraham Singer

Abraham Singer

Familienbiografie
Abraham Singer
Anna Singer, geb. Schott


Abraham Josef Singer war am 12.10.1881 in Sanka (Bezirk Chrzanow/Westgalizien) als Sohn von Moses Hirsch Singer und seiner Frau Hanna, geb. Singer, geboren worden. Er ging im kaufmännischen Betrieb seines Vaters in die Lehre. In Chrzanow heiratete er im März 1904 Chaja Temera Schott (gen. Anna, geb. 4.12.1880 in Chrzanow), Tochter von Moses und Sarah Schott, geb. Schnitzer. Das Ehepaar bekam acht Kinder: Chaja (gen. Hanna, geb. 1904 in Chrzanow), Samuel (Daten nicht bekannt), Emanuel (geb. 1909 in Chrzanow), Berta (geb. 1911 in Bremen), Jizrak (gen. Isaak, geb. 1912 in Bremen) Fanny (geb. 1914 in Bremen), Sophie (geb. 1917 in Bremen) und Hermann (geb. 1920 in Bremen). Die Eheleute waren strenggläubige chassidische Juden.

Direkt aus Chrzanow kommend meldete sich die Familie 1910 in Bremen an und fand eine Wohnung in der Sebaldsbrücker Heerstraße 89 (früher Sebaldsbrücker Chaussee). Dort wohnte bereits die Familie Lundner, die gleichfalls aus Chrzanow stammte. Auch Abraham Singer wurde zeitweise Lundner genannt. Er war Produktenhändler und erhielt 1924 die Erlaubnis zum Metallhandel. Nach der Erinnerung seines Sohnes Isaak war er wegen „seiner Ehrlichkeit überall beliebt“. Im Ersten Weltkrieg musste er wie viele Auswanderer aus Galizien im österreichischen Heer dienen (1914-1918); er stand im Rang eines Unteroffiziers. Nach der Gründung des polnischen Staates 1918 wurden ihm und seiner Familie die polnische Staatsangehörigkeit zugesprochen.

Das führte 20 Jahre später dazu, dass Abraham und Anna Singer sowie ihr Sohn Hermann am 27.10.1938 vom Bremer Polizeipräsidenten aufgefordert wurden, das Reichsgebiet bis zum 29. zu
verlassen. Am 28. Oktober wurden sie in einer Gruppe von über 80 Deportierten in Fraustadt/Oberschlesien über die Grenze nach Polen abgeschoben („Polenaktion“). Anscheinend fand ihre Ausweisung nicht wie in anderen Fällen überfallartig statt, da am 1. November keine verderblichen Vorräte oder Lebensmittelreste mehr von der Polizei in der Wohnung vorgefunden wurden. Die Wohnung war zuvor von der Gestapo versiegelt worden.

In Fraustadt konnte sie ihr Sohn Samuel, der in Krakau lebte, in Empfang nehmen und ihnen den Grenzübergang erleichtern. Den Vater begrüßte er traditionell, die Mutter herzlich, so die Erinnerung seines Bruders. Zunächst ging es nach Krakau, dann weiter nach Chrzanow, der Geburtsstadt der Mutter.

Abraham Singer hatte seine in Hannover lebende Tochter Chaja (Hanna) beauftragt, die Bremer Wohnung und das hinterlassene Warenlager aufzulösen. Sie sprach am 28.11.1938 mit einer Vollmacht ihres Vaters im Ausländeramt vor und bat um Entsiegelung der Wohnung. Den Erlös, es waren auch noch Pferd und Wagen vorhanden, verwandte sie, um Wäsche und Kleidung zu kaufen und diese ihren Eltern in Polen zukommen zu lassen. Für die Wohnungseinrichtung fanden sich keine Abnehmer. Das Altmetalllager war nicht mehr vorhanden.

Das Metalllager war gleich nach der Ausweisung von der SA beschlagnahmt worden. 12,5 t Zink und 3,8 t Blei wurden an einen Händler für 1.500 RM verkauft. Der Erlös wurde angeblich bei der SA-Standarte 14 in Verden abgeliefert, die es wohl an die Gestapo Wesermünde weitergegeben haben soll. Als die Gestapo in Bremen das Geschäft stornieren und die Metalle beim Händler beschlagnahmen wollte, hatte der sie aber schon zum Einschmelzen nach Hamburg gegeben. Der Händler wurde angewiesen, den Erlös an die Bevollmächtigte auszuzahlen, was nach einem Vermerk der Gestapo vom 15. Dezember auch so geschehen sein soll.

Bis 1939 stand Sohn Isaak, inzwischen in Palästina lebend, noch in Kontakt mit seinen Eltern. Später habe er erfahren, dass sie im Ghetto inhaftiert worden seien. In Schweden erreichte den dorthin geflohenen Hermann ein Brief aus Chrzanów von Adolf Tymberg. Der ehemalige Bremer Nachbar schrieb ihm, dass seine Eltern „fort“ seien. Ihr weiteres Schicksal bleibt unbekannt.

Chrzanów war am 4.9.1939 von der Wehrmacht besetzt worden, ab März 1940 wurden die jüdischen Einwohner in einem Ghetto zusammengefasst. Im Juni 1942 ist ein Transport mit 4.000 Juden in das 20 km entfernte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dokumentiert, und im Zuge der Auflösung des Ghettos am 18.2.1943 wurden weitere 1.000 Personen nach Auschwitz verschleppt.

Zum Schicksal der Kinder:

Hermann Singer fasste sehr schnell den Entschluss, wegen der ungewissen Zukunft aus Polen zu fliehen. Er begab sich nach Krakau zu seinem Bruder Samuel, tat sich dort mit anderen jungen Männern zusammen und erreichte mit Hilfe von Fluchthelfern aus anderen jüdischen Gemeinden Tallinn/Estland. Von dort gelangte er als blinder Passagier nach Schweden. Nach seiner Ankunft geriet er für zwei Monate in Untersuchungshaft. Anfang der 1950er Jahre erhielt er die schwedische Staatsbürgerschaft und arbeitete später als Transportspezialist in einem Krankenhaus-Versorgungsverbund.

Chaja (Hanna) Singer lebte in Hannover und war seit 1928 mit Samuel Krajzmann verheiratet. Sie emigrierten am 21.3.1939 mit ihrem Sohn Manfred auf der „Gneisenau“ über Bremen nach Shanghai. Dort starb ihr Sohn an den Folgen der Entbehrungen. Nach Kriegsende emigrierte das Ehepaar Krajzmann nach San Francisco/USA.

Samuel Singer war zu Beginn der 1920er Jahre nach Polen zurückgegangen. Er war als Musiker und Lehrer freiberuflich tätig und hatte eine Familie mit zwei Kindern. Er war aber bereits geschieden, als er seine Eltern und seinen Bruder Hermann 1938 an der Grenze in Empfang nahm. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

Emanuel Singer war religiös modern gesinnt, verglichen mit den orthodox eingestellten Eltern. Nachdem er zunächst im Betrieb des Vaters mitgearbeitet hatte, verließ er 1933 Bremen. Vermutlich emigrierte er 1934 nach Frankreich. Nach dem Zusammenbruch der Vichy-Regierung schloss er sich der Fremdenlegion an. Nach Kriegsende lebte er in Spanien und leitete dort ein Hotel. Er blieb unverheiratet und starb in den 1960er Jahren.

Berta Singer war Hausgehilfin und u.a. in Den Haag und Leipzig in Stellung. Sie zog 1936 nach Aschersleben und heiratete dort im selben Jahr Ludwig Tworoger (geb. 1907 in Falkenstein/Vogtland). Ihr Sohn Manfred wurde 1937, ihre Tochter Ruth 1941 geboren. Die Familie Tworoger wurde im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben, konnte aber aus nicht bekannten Gründen nach Aschersleben zurückkehren. Am 13.4.1942 wurde die Familie über Magdeburg in das Warschauer Ghetto deportiert. Dort verliert sich ihre Lebensspur.

Isaak Singer war Typograph von Beruf. Er zog 1935 nach Hamburg-Blankenese in den Steubenweg. Dort befand sich eine Hachschara-Ausbildungsstätte. Hier heiratete er und wanderte mit seiner Ehefrau Hertha 1936 nach Palästina aus. Er war in der Jewish Brigade aktiv und arbeitete später als Angestellter in einem Lebensmittelgeschäft.

Fanny Singer arbeitete als Hausgehilfin zeitweise in Halberstadt, Konstanz, Bremen und Twistringen, bis sie 1937 nach Berlin zog. Dort lebte sie mit ihrem Ehemann Joseph List und ihrem Kind. Ihr Mann betrieb eine Klempnerei. Die Spur der Familie verliert sich im Warschauer Ghetto. Dies ist gleichfalls dem Brief von Adolf Tymberg (s.o.) zu entnehmen, den dieser an Hermann Singer in Schweden schrieb.

Sophie Singer war von Beruf Hausgehilfin. Sie war u.a. bei der Familie Bialystock (Inhaber Kaufhaus Adler, Am Brill) und bei Bella Carlebach-Rosenak, der Witwe des 1923 verstorbenen Gemeinderabbiners Dr. Leopold Rosenak, beschäftigt. Diese Stelle musste sie 1935 aufgeben, wenige Monate bevor ihr Sohn Werner in Göttingen zur Welt kam. Der Vater blieb unbekannt. Da Sophie ab 1936 eine Stellung in Dortmund hatte, lebte das Kind bis 1937 bei den Großeltern in Bremen und kam im Oktober desselben Jahres in die Obhut seiner Tante Berta in Aschersleben. Nach einem Aufenthalt in Berlin zog auch Sophie im August 1938 dorthin, um nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit Ausschau zu halten. Am 28.10.1938 wurde sie nach Polen abgeschoben. Später gelang ihr die Flucht nach England. Ihren damals dreijährigen Sohn Werner musste sie im jüdischen Säuglings- und Kleinkinderheim in Berlin-Niederschönhausen zurücklassen. Er lebte zeitweise in einer jüdischen Familie in Berlin. Am 29.11.1942, im Alter von sieben Jahren, wurde er mit dem 23. Berliner Osttransport in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Seine Mutter verharrte zeitlebens in der Hoffnung, er sei unbekannt adoptiert worden. Sie heiratete 1950 den Rechtsanwalt Dr. Paul Kirk und verstarb 1997 in London.

Hermann Singer kam erstmals 1999 wieder zurück nach Bremen und war 2007 Ehrengast des Bremer Senats. Er sprach anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 am Mahnmal in der Dechanatstraße: „Bremen war meine Heimat“, so u.a. der 87-Jährige.

Peter Christoffersen (2023)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E10830; 4,54-E10831; 4,54-E12016; Einwohnermeldekartei
Mündlicher Bericht Hermann Singer
Andrae, Claudia/Bremer, Lars: Familie Tworoger, unveröff. Manuskript, Aschersleben 2019
Weser Kurier vom 10.11.2007

Abbildungsnachweis: Privatbesitz

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Polenaktion"
Glossarbeitrag Ostjüdische Gemeinde