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Jacob Goldschweer, *1892

seit 1942 wiederholt Bremer Nervenklinik, "verlegt" 9.12.1943 Heilanstalt Meseritz-Obrawalde,
ermordet 2.10.1944


Orleansstraße 88
Bremen-Schwachhausen

Verlegedatum: 17.10.2016

Jacob Goldschweer

Jacob Goldschweer

Jacob Goldschweer wurde am 22.6.1892 in Papenburg geboren. Seit 1921 arbeitete der gelernte Werkzeugschlosser (Schnittbauer) bei Cordes & Sluiter, einer in Hemelingen ansässigen Fabrik für elektrische Spezialmaschinen. Nach Auskunft seines Chefs hatte er hier zur größten Zufriedenheit „manch kostspieliges Stanzwerkzeug“ geschaffen. Mit seiner Frau und sechs Kindern lebte er in einer kleinen Wohnung im ersten Stock eines Bremer Hauses in der Orleansstraße im Bremer Stadtteil Schwachhausen.

Anfang März 1942 wurde der 49-Jährige wegen „akuter Angst und Verwirrtheitszustände“ in die Bremer Nervenklinik eingewiesen. Schon seit mehreren Jahren hatte seine Frau „eigenartige Zustände von kurzdauernder ‚Geistesabwesenheit‘“ bemerkt, während derer ihr Mann ganz plötzlich ein Gespräch oder eine begonnene Verrichtung unterbrach. „Abgesehen von einer gewissen Reizbarkeit, die sie auf die unglücklichen Wohnverhältnisse zurückführte, habe sie keine besondere Veränderung im Wesen ihres Mannes festgestellt. Sehr unterhaltsam und gesprächig sei ihr Mann noch nie gewesen.“

In der Nervenklinik besserte sich der zunächst krampfartige Zustand des Patienten, in dem er tageweise künstlich ernährt werden musste, nur langsam. Als es ihm wieder besser ging, konnte er sich an nichts mehr erinnern und berichtete dem Arzt: „Er komme sich vor, als sei er längere Zeit auf See gewesen. Er sei noch ganz benommen im Kopf und habe Flimmern vor den Augen.“ Mit der Diagnose „Spätepilepsie mit Absencen“ wurde er nach knapp zwei Monaten „als gebessert und arbeitsfähig entlassen“.

Im Jahr darauf erfolgte seine erneute Einweisung. Frau Goldschweer hatte die Polizei gerufen, weil sich ihr Mann nach einem Diebstahl in seinem Kleingarten plötzlich merkwürdig benahm. In der Zwischenzeit hatte der Werkzeugschlosser seine Arbeit nicht wieder aufnehmen können, „sondern seine Parzelle bestellt“. Von den Ärzten wird der Patient nun als „brummig und einsilbig“ beschrieben. Er zeige bei der Feldarbeit und als Zimmerreiniger wenig Arbeitsleistung und habe häufig kleine Konflikte mit anderen Kranken. Erfolglos bemühte sich seine Frau im November 1943 um die Entlassung ihres Ehemannes. Nach der teilweisen Zerstörung der Bremer Nervenklinik wurde er am 9.12.1943 „per Sammeltransport“ in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde überführt.

Mehr als siebzig Jahre später übergab der jüngste Sohn von Jacob Goldschweer dem Krankenhaus-Museum diverse Unterlagen seines Vaters, die er im Nachlass der verstorbenen Schwester gefunden hatte. Darunter sechs Briefe aus Meseritz-Obrawalde. Erschüttert über das Schicksal seines Vaters, an den er keine eigene Erinnerung hat und aus Angst, die Zeitzeugnisse könnten irgendwann „einfach weggeschmissen“ werden, hatte er sich zu diesem Schritt entschlossen. Im Zentrum der Briefe, die Jacob Goldschweer zwischen April und September 1944 schrieb, steht die Sorge um die Familie, die Angst nicht entlassen zu werden und in der Anstalt verhungern zu müssen, aber auch die Dankbarkeit für die regelmäßig zugesandten Lebensmittel. Auszüge dieser seltenen und historisch wertvollen Dokumente ermöglichen einen Blick hinter die Mauern einer Anstalt, in der das Töten zum Alltag gehörte.

Jacob Goldschweer starb am 2.10.1944 in Meseritz-Obrawalde. Zu diesem Zeitpunkt lebten in der Anstalt, in der seit 1942 systematisch gemordet wurde, noch 47 der insgesamt 307 aus Bremen aufgenommenen Frauen und Männer. Eine mögliche Erklärung, warum Goldschweer zu jenen gehörte, die ungewöhnlich lange überlebten, liefert der Hinweis auf den zuständigen Abteilungsarzt Medizinalrat Vollheim. Hermann Vollheim, Ende 1941 zum ärztlichen Leiter der Meseritzer Anstalt ernannt, hatte 1942 seine Teilnahme an der Krankenmord-Aktion ausdrücklich verweigert. Nach seiner darauffolgenden Entbindung von der Leitungsfunktion arbeitete er dennoch weiter als Arzt auf der Männerstation. Seine Einträge in der Krankenakte des Bremer Patienten sind außergewöhnlich lang und deuten darauf hin, dass Vollheim seine ärztlichen Aufgaben weiterhin wahrnahm. Nicht bekannt sind die Umstände, die schließlich zum Tod des 52-jährigen Jacob Goldschweer führten.

Jacob Goldschweers letzter Brief aus Meseritz-Obrawalde:

"Obrawalde 24.7.44 neun Uhr morgens
[…] Ihr habt doch trotz der vielen Angriffe dort den Lebensmut nicht verloren – ich will denselben auch nicht verlieren, trotz unmöglicher Umgebung […] Ich leide hier sehr und werde immer magerer – wir essen immer alte Kartoffeln neue soll es diese Woche geben. Mit deiner Sorge was mache ich kann keine Gemüse mehr pflanzen weiß ich nur den Rat: Das Land nebenan zu mieten aber hast du Dünger? […]

Man hat Dich nicht richtig unterrichtet. Wir haben hier einen Wirtschaftsdirektor – Leitender ist Herr Medizinalrat Mootz (der dir ja schon schrieb). Ich habe den Herrn noch nicht gesprochen. Wenn Du nichts unternimmst, so komme ich nicht heraus auch nicht wenn ich gestorben bin.

[…] Ich mache mir viel Sorge um Euch und Eure Zukunft – unternimm bitte nichts ohne meinen Rat – Mit Gottes Hilfe werden wir auch einmal bessere Zeiten haben."

Fast elf Jahre nach seinem Tod, im Mai 1955, wandte sich die Witwe an das Bremer Landesamt für Wiedergutmachung. Sie und ihr jüngster,17-jähriger Sohn befänden sich in einer Notlage und „bedürften deshalb dringend Beihilfen zum Lebensunterhalt“. Der zuständige Sachbearbeiter forderte daraufhin beim Hauptgesundheitsamt ein Gutachten an und lieferte dem Amtsarzt zugleich Argumente für eine Ablehnung. Tatsächlich könne nach den gesetzlichen Bestimmungen ein Härteausgleich gewährt werden, wenn der Betreffende durch „Euthanasie um’s Leben gekommen ist“. Daher sei „es von ausschlaggebender Bedeutung, zu wissen ob dieses zutrifft oder ob er eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Nur zwei Wochen später hatte der zuständige Amtsarzt die gewünschte Expertise angefertigt. Da die Krankenakte des Patienten in Meseritz geblieben war, stützte er sich allein auf die offizielle Todesursache. Der an einer Spätepilepsie leidende Patient sei „infolge ‚gehäufter Krampfanfälle‘ entschlafen“, hatte die Meseritzer Anstaltsverwaltung gemeldet und damit – wie üblich – eine logische Erklärung für den plötzlichen Tod des Mannes vorgegeben.

Der Bremer Amtsarzt hingegen veränderte kurzerhand die Diagnose, indem er schlussfolgerte, der Patient sei wohl an Schizophrenie erkrankt gewesen und deshalb mit einer Schocktherapie behandelt worden. Die dabei aufgetretenen gehäuften Krampfanfälle seien nicht vorgesehen oder beabsichtigt gewesen. Obwohl dieser Tod kein natürlicher Tod gewesen sei, könne man ihn auch nicht mit der „Euthanasie“ gleichsetzen.

Obwohl 1955 auch in Bremen längst bekannt war, dass Meseritz-Obrawalde keine Heil-, sondern eine Tötungsanstalt war, übernahm der Mitarbeiter der Wiedergutmachungsbehörde vollständig die konstruierte Argumentation des „medizinischen Sachverständigen“ und wies den Antrag als unbegründet zurück.

Insgesamt wurden in Bremen sieben Entschädigungsanträge für Opfer der „Euthanasie“ gestellt. In sechs Fällen von Familien, deren Angehörige in den Anstalten Hadamar und Meseritz-Obrawalde ermordet wurden, in einem Fall von einem ehemaligen Patienten, der seine Flucht aus Hadamar überlebt hatte. Keinem von ihnen wurde eine materielle Wiedergutmachung zugesprochen. Bis in die 1980er Jahre blieb das System der Nichtanerkennung erhalten, das die Opfer des „hygienischen Rassismus“ nachträglich stigmatisierte und die Angehörigen demütigte.

Gerda Engelbracht (2017)

Informationsquellen:
Engelbracht, Gerda: Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen in Bremen. Bremen 2016, S. 69-75

Abbildungsnachweis: Privat

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Euthanasie" / Zwangssterilisation
Glossarbeitrag "Heilanstalten"