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Zallel Kramer, *1887

„POLENAKTION“ 1938 / BENTSCHEN/ZBASZYN
ERMORDET IM BESETZTEN POLEN


Rückertstraße 26
Bremen-Neustadt

Verlegedatum: 19.11.2019

Zallel Kramer


Zallel Kramer kam am 25.4.1887 in Neu-Kalusz (Galizien, heute Ukraine) als Sohn von Freidel (gen. Frieda) Kramer zur Welt (Vater unbekannt). Seine Mutter heiratete später Adolf Erdstein, so dass sich Zallel Kramer auch Erdstein nannte. Sein Vorname wird in den Unterlagen zudem auch mit Zabel und Sally angegeben. Er besaß die polnische Staatsangehörigkeit. In Bremen lebte er ab 1920, zugewandert aus seinem Geburtsort.

Am 9.5.1922 ging er in Bremen standesamtlich die Ehe mit Sosie (genannt Sophie) Glauber (geb.
22.3.1891 in Lachowce/Polen) ein. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Feige (gen. Fanny, geb. 1912 in Stanislau/Stanislawow), Sophie (gen. Jette; geb. 1920), Frieda (geb. 1922) und Marie (geb. 1924). Die
Familie lebte ab dem 2.8.1928 im eigenen Wohnhaus in der Westerstraße 28.

Um 1930 trennte sich das Ehepaar, und Zallel Kramer meldete sich am 6.10.1931 aus der gemeinsamen Wohnung ab. In der Folgezeit wechselte er mehrfach den Wohnsitz, der sich oft im Hause seines Betriebes befand. Zuletzt bewohnte er vom 1.9.1937 bis zum 28.10.1938 als Untermieter ein Zimmer bei Max Steinberg in der Rückertstraße 26.

Zallel Kramer betrieb seit seiner Ankunft in Bremen sehr erfolgreich einen Rohproduktengroßhandel. Seine Zulieferer waren Klein- und Straßenhändler. Er gründete den Betrieb mit seiner Ehefrau zunächst in der Albrechtstraße und verlagerte ihn später in die Westerstraße. Nach der Trennung des Ehepaares baute er sein Geschäft neu auf, zunächst in der Weberstraße 32. Er wechselte später aus Platzgründen in die Hohentorstraße 73. Dort hatte er Lagerräume bei der Fa. Nathan Grünberg gemietet.

Vor den nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen beschäftigte er bis zu zehn Mitarbeiter, unterhielt zwei Lkws und ein Fuhrgespann. Seine monatlichen Umsätze sollen über 20.000 RM betragen haben. Zeitweise lieferte er waggonweise Schrott an Aufkäufer. Sein Betrieb war 1935 in der Boykottliste der Kreisleitung der NSDAP aufgeführt. Ab 1937 mussten die Mitarbeiter entlassen werden, da die Fachgruppe der Rohproduktenhändler ihre Mitglieder anwies, mit jüdischen Unternehmern keinen Handel mehr zu betreiben. Er hatte einen guten Ruf als Geschäftspartner und war sehr beliebt. Daher wollten alte Geschäftskunden den Handel mit ihm nicht aufgeben und kamen weiter bei Dunkelheit, um ihre Waren anzuliefern. Ein Freund bezeichnete ihn später als einen umsichtigen, tüchtigen und sparsamen Geschäftsmann. Er war bekannt dafür, dass er pünktlich zahlte und seine Preise korrekt kalkulierte. Er lebte persönlich bescheiden und sparsam. 1937 wurde er kurzzeitig verhaftet, da er der „Rassenschande“ bezichtigt worden war, d.h. ihm wurde eine sexuelle Beziehung zu einer nicht-jüdischen Frau unterstellt. Das Verfahren wurde aber nach wenigen Tagen eingestellt.

Als polnischer Staatsangehöriger wurde Zallel Kramer am 28.10.1938 im Rahmen der Polenaktion (siehe Glossar) ausgewiesen. Seine Ehefrau Sophie sowie die Töchter Frieda und Marie standen gleichfalls auf der Ausweisungsliste. Niemand hatte die Möglichkeit zu einer geordneten „Abreise“. Um 1939 lebte er bei seiner Schwester in seinem Geburtsort Neu-Kalusz.

Der Polizei in Bremen wurde bekannt, dass Zallel Kramer sich Ende Juli 1939 im polnischen Grenzort Zbąszyń (Neu Bentschen) aufgehalten hatte mit dem Ziel nach Bremen zu reisen, um hier sein Geschäft zu liquidieren. In der Regel erhielten Betroffene der Polenaktion einen „Ausnahme-Einreisesichtvermerk“ für bis zu fünf Wochen. Seine Ehefrau hatte zur gleichen Zeit eine Einreise in das Deutsche Reich geplant. Beide haben die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Der Schwiegersohn sagte später aus, dass die Kinder, die in die USA emigriert waren, sie vor einer Einreise gewarnt haben sollen.

Kramer hatte wohl neben dem normalen Warenlager noch Metalle und andere wertvolle Rohstoffe als Reserve „für schlechte Zeiten“ im Keller deponiert, doch aufgrund der plötzlichen Ausweisung konnte er nichts mehr verwerten. Zeugen berichteten nach dem Krieg, dass das Lager zwar zunächst von der Polizei versiegelt, später aber unter Mitwirkung von SA-Leuten abgefahren worden sei. Das Pferd sei aus dem Stall geholt, zur jüdischen Firma Renberg gebracht und später öffentlich versteigert worden.

Das im gemeinsamen Besitz befindliche Grundstück in der Westerstraße 28 war mit Hypotheken belegt, die nach Ausweisung des Ehepaares Kramer nicht mehr bedient wurden. Daraufhin beantragten Gläubiger die Zwangsversteigerung des Grundstückes. Sophie Kramer versuchte dies mit einem Brief vom 11.8.1939 aus Stanislawow zu verhindern, indem sie auf die Unmöglichkeit der Zahlung wegen der zwangsweisen Ausweisung hinwies. Der Rechtsanwalt einer Hypothekengläubigerin wies diese Einlassung am 15.2.1940 mit der Begründung zurück:

"[...] wird bemerkt, dass die Schuldner Juden sind und es im Interesse des deutschen Volkes liegt, dass grundsätzlich jüdischer Grundbesitz in arische Hände überführt wird. Es kommt weiter in Betracht, dass die Schuldner Polen und damit feindliche Ausländer sind, auf welche die deutschen Vollstreckungsschutzbestimmungen keine Anwendung finden dürfen."

Die Zwangsversteigerung fand am 12.11.1940 statt und ergab einen Erlös von 37.500 RM für das Grundstück. Das entsprach der Summe der Steuer- und Hypothekenschulden.

Die Behörden hatten dem Erwerber zur Auflage gemacht: „Den im Hause Westerstraße 28 wohnenden Juden muss der bisher bewohnte Wohnraum erhalten bleiben.“ In das durch Emigration und Ausweisung teilweise unbewohnte Haus waren nach der Räumung andere jüdische Bewohner eingewiesen worden. Es wurde von den Behörden als „Judenhaus“ genutzt. Das Anwesen wurde 1944 bei einem Bombenangriff vollständig zerstört.

Nach Aussage seiner Neffen Josef und Naftali Seif (1962 in den USA) lebte Zallel Kramer nach der Ausweisung bis Oktober 1941 bei seiner Schwester in Kalusch (Kalusz). Nachdem die Verfolgungen dort zunahmen, suchte er Zuflucht im Haus seiner Schwägerin in Stanislawow, wo auch seine Ehefrau mit den Töchtern in einer Einzimmerwohnung ansässig war. Zuletzt traf Naftali Seif ihn im Sommer 1941, als er ihm eine dringende, unentgeltliche Zahnbehandlung vermittelte, da sein Onkel inzwischen mittellos geworden war. Über Zalell Kramers weiteres Schicksal, das seiner Ehefrau und der Töchter Frieda und Marie ist nichts bekannt.

Am 12.10.1941 gab es in Stanislawow die erste Massenerschießung von ca. 10.000 Juden. Im Februar/Mai 1943 wurden mit der Auflösung des Ghettos erneut über 11.000 Juden erschossen. Als die Stadt im Juli 1944 befreit wurde, lebten von vormals mehr als 40.000 Juden nur noch 100 in der Stadt.

Die Tochter Fanny betrieb in der Westerstraße ein Geschäft mit Öfen und Herden. Sie heiratete 1935 Philipp Goldstein (geb. 1908). Im August 1938 konnten beide in die USA flüchten. Die Tochter Jette musste ihren Schulbesuch im April 1937 abbrechen und verbrachte ein knappes Jahr in Belfort, um an einer Privatschule Französisch zu lernen. Die erwünschte Ausbildung zur Auslandskorrespondentin konnte sie nach ihrer Rückkehr nicht fortsetzen. Sie emigrierte gleichfalls im August 1938 in die USA, heiratete dort David Weintraub.

Josef Seif lebte bis Anfang November 1942 mit seinem Onkel im elterlichen Haus und floh dann über die Ukraine nach Russland, wo er bis Ende 1945 in Taschkent als Elektriker im Kohlebergbau Arbeit fand und die Kriegszeit überstand. Sein Bruder Naftali überlebte die Besatzungszeit in einem Versteck. Als Josef Seif Ende 1945 nach Stanislawow zurückkehrte, fand er dort niemanden aus seiner Familie mehr vor. Nur sein jüngerer Bruder war am Leben geblieben, den er später in Frankreich wiederfand. Beide wanderten in die USA aus.

Peter Christoffersen (2020)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E4289, 4,54-E10257, 4,54-E10258, 4,54-E10529, 4,54-E11884, 4,54-E11887, 4,54-E10914, 4,54-Ra2057, 4,54-Ra2154, 4,54-Rü6249, 4,54-Rü6250, 4,54-Rü6251, 4,75/12-2166, Einwohnermeldekartei

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Polenaktion"
Glossarbeitrag "Arisierung"