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Marie Drallmeyer, geb. Benker, *1874

SEIT 1928 MEHRMALS EINGEWIESEN NERVENKLINIK, „VERLEGT“ 9.12.1943 HEILANSTALT MESERITZ-OBRAWALDE, ERMORDET 17.12.1943


Fliederstraße 33
Bremen-Hemelingen

Verlegedatum: 30.09.2021

Marie Drallmeyer


Marie Louise Wilhelmine Drallmeyer wurde am 19.1.1874 in Lemförde/Kreis Diepholz als
zweites von vier Kindern des Ehepaars Dietrich und Wilhelmine Benker geboren. Ihre Mut-
ter verstarb früh. Marie besuchte die Volksschule. Mit 22 Jahren heiratete sie den Bahnar-
beiter Friedrich Drallmeyer aus Bremen. Die Hochzeit fand in Hastedt statt. Wo das Paar die
ersten 20 Ehejahre wohnte, ist nicht bekannt, aber am 12.10.1927 bezogen sie ihr Eigen-
heim in der Fliederstraße 33. Ihr Mann arbeitete zu dieser Zeit als Stellwerksmeister.

Zwei Jahre später, im Herbst 1929, veränderte sich plötzlich Maries ganzes Wesen. Aus
der lustigen und geselligen Frau – so beschrieb ihr Ehemann sie bei der Aufnahme in die
Krankenanstalt – war ein ängstlicher Mensch geworden. Sie fürchtete, ihr Mann könne
seine Arbeit verlieren. Diese Angst verstärkte sich in den kommenden Jahren noch vor
dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise. Sie fühlte sich aber auch von einem Mieter
im Haus bedroht und schloss sich in Abwesenheit ihres Mannes in ihrem Zimmer ein. Sie
schlief schlecht und aß nicht mehr viel. Aus Sorge um ihren Gesundheitszustand wur-
de Marie Drallmeyer daher in die Krankenanstalt in der St. Jürgen-Straße eingewiesen.
Doch im Krankenhaus verweigerte sie die Essens- und Medikamentenaufnahme, war
unruhig, „blieb nicht zu Bett, wollte hinaus“. Auf Veranlassung von Prof. Dr. Hess wurde
sie daher am 25.10.1929 in die Bremer Nervenklinik überwiesen.

Auch hier war sie zunächst sehr unruhig und ängstlich, sträubte sich gegen die Unter-
suchungen und sprach kaum. Zur Beobachtung wurde sie im Bettensaal von Haus 4
untergebracht. Damals ging man in der Psychiatrie davon aus, dass Bettruhe psychisch
kranken Menschen helfe. So wurden gerade unruhige Patienten zur Ruhe gezwungen.
Wehrten sie sich dagegen, wurden sie fixiert oder erhielten Beruhigungsmittel. So heißt
es auch in der Krankenakte von Marie Drallmeyer: „trotz großer Schlafmitteldosen nicht
im Bett zu halten“.

Nach etwa vier Wochen besserte sich langsam ihr Zustand. Sie erhielt weiterhin Schlaf-
mittel, begann aber auch, sich mit Haus- und Näharbeiten zu beschäftigen. Marie Drall-
meyer drängte ihren Mann, sie nach Hause zu nehmen, „sonst käme sie wohl nie aus
Ellen heraus“. Gegen den ärztlichen Rat holte ihr Mann sie am 30.4.1930 – nach einem
siebenmonatigen Aufenthalt – aus der Heil- und Pflegeanstalt ab. Doch schon zwei Mo-
nate später erfolgte eine erneute Einweisung.

Ähnlich wie bei ihrem ersten Aufenthalt war Marie Drallmeyer zunächst sehr unruhig.
Sie wirkte traurig, verstimmt und ratlos. Nur langsam begann sie, sich wieder mit Haus-
arbeiten zu beschäftigen. Nach neun Monaten durfte sie die Anstalt wieder verlassen,
obwohl sie als ungeheilt galt. Die Diagnose lautete „Melancholie“.

Nun folgte eine längere Phase, in der sie zuhause lebte. Erst im September 1933 brach-
ten ihre Angehörigen sie erneut in die Heil- und Pflegeanstalt. Ihr Zustand war wech-
selhaft. Es gab Phasen, in denen die 59-Jährige verwirrt und teilnahmslos wirkte. Dann
wieder war sie sehr hilfsbereit, kümmerte sich sehr nett um schwierige Mitpatientinnen,
fütterte diese mit viel Geduld und half auf der Station.

Als im Februar 1941 der leitende Anstaltsdirektor Dr. Kaldewey die Meldebögen der „Ak-
tion T4“ zur Erfassung und Selektion der Anstaltspatienten ausfüllte, charakterisierte er
Marie Dralllmeyer darin als „antriebsschwach, […] kontaktunfähig“. Unter „Art der Be-
schäftigung“ heißt es: „leistet, außer gelegentlichen Handreichungen im Wachsaal der
Siechenstation nichts“. Ihre Hilfsbereitschaft gegenüber ihren Mitpatientinnen findet
darin keine Erwähnung.

Ihr Mann war nur wenige Monate nach ihrer letzten Aufnahme 1933 gestorben. Doch
ihre Schwester und ihre Schwägerin hielten den Kontakt und besuchten sie regelmäßig.
Laut Krankenakte verlangte sie nun – nach dem Tod ihres Mannes – nicht mehr, nach
Hause entlassen zu werden.

Als die Bremer Nervenklinik im November 1943 nach einem schweren Bombentreffer
teilgeräumt werden musste, wurde Marie Drallmeyer am 9. Dezember zusammen mit
über 300 weiteren Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde depor-
tiert. Nur sieben Tage später, am 17.12.1943, war sie tot. Sie starb angeblich an „Entkräf-
tung bei Fieber“. Einen Monat später wäre sie 70 Jahre alt geworden.

Hedwig Thelen (2023)

Informationsquellen:
Archiv Krankenhaus-Museum Bremen, A 550/12; StA Bremen Einwohnermeldekartei, Heiratsbuch

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Heilanstalten"