Franja Bialystock, geb. Bloch, *1901
Flucht 1939 nach Belgien interniert im Lager Malines/deportiert 1.9.1942
ermordet in Auschwitz
Am Brill 14
Bremen-Mitte
Am Brill 14 - Weitere Stolpersteine:
Franja Bialystock

Familienbiografie
Heinrich Bialystock
Franja Bialystock, geb. Bloch
Miriam Bialystock
Heinrich (Chaim) Bialystock (geb. 19.7.1891 in Wyszkow/Russisch-Polen) war das zweitälteste von sieben Kindern des Textilkaufmanns Mendel Bialystock und seiner Ehefrau Malka, geb. Kahan. Am 26.11.1922 heiratete er in Hannover Franja (Fraidel) Bloch (geb. 21.2.1901 in Czenstochau/Russisch-Polen), die Tochter des Bäckermeisters und Konditors Samuel Bloch (1870-1934) und seiner Ehefrau Chana Bloch, geb. Imich (1871- 1941). Franjas Eltern waren 1905 mit vier Kindern (Heinrich, geb. 1897, Franja, Joseph, geb. 1902, und Zilli, geb. 1904) aus Czenstochau nach Hannover gezogen, wo zwei weitere Kinder (Max 1907 und Rosa 1912) geboren wurden.
Heinrichs und Franjas Sohn Martin (Moshe) wurde am 18.8.1923 im Elternhaus seiner Mutter in Hannover geboren, die Tochter Miriam am 15.1.1929 in Bremen. Franja Bialystock half im gutgehenden Textilgeschäft ihres Mannes, das unter dem Firmennamen „Adler“ in der Stadtmitte Am Brill 14 gelegen war. Die Familie wohnte im ersten Stock des Hauses über den Geschäftsräumen.
Am 29.1.1932 erhielt Heinrich Bialystock die deutsche Staatsangehörigkeit, nachdem ein Polizeibericht von 1930 ihn wie folgt charakterisiert hatte:
„Jude, stammt aus dem Osten; besuchte Volksschule in Grajewo, wo Russisch Unterrichtssprache war. Nachmittags Privatunterricht in Deutsch, Rechnen, Schreiben. Zu Hause nur Deutsch gesprochen. Begeisterung für deutsche Literatur. Ehefrau auch aus dem Osten (Russisch-Polen); besuchte in Hannover Schulen (Lyzeum), wurde deutsch erzogen. B. hat in Hannover, Kiel und Bremen an Handels- u. Fortbildungskursen teilgenommen. B. machte eine Lehre bei den Eltern in Grajewo, dann in Hannover (1908-1911): Herrenkonfektionsbranche. In Hannover selbständiger Einkäufer von Partieware (bis 1912). Anschließend beim Vater in
Kiel tätig (bis 1914). Umzug nach Bremen und Eröffnung eines Geschäfts in der Nordstraße 48 (Partiewaren; Trödler). 1920 Eröffnung eines Herrenkonfektionsgeschäft in der Straße Doventor 13. 2.2.1926 Verlegung des Geschäfts nach Am Brill 14 (Eigentum des B.); Firmenname: „Adler“; gutgehendes Geschäft, einwandfreie Geschäftsführung. Frau B. hilft im Geschäft, 2 Verkäuferinnen und 1 junger Mann. Familie wohnt über dem Laden in 4-Zi-Wohnung. Kundschaft: Arbeiter- u. Mittelstand. ... Ordentlicher Lebenswandel, fleißig, strebsam, solide.“
Der Wert des Hauses, das sich in zentraler Lage neben dem Kaufhaus der Fa. C&A Brenninkmeyer befand, wurde damals auf 95.000 RM geschätzt. Die Einbürgerung wurde am 27.2.1934 widerrufen; Rechtsgrundlage war das „Gesetz über Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. 7. 1933, das insbesondere auf Juden aus Osteuropa angewendet wurde. Damit waren Heinrich Bialystock, seine Frau und seine Kinder „staatenlose Ausländer“.
Martin Bialystock hat später berichtet, wie er als Schüler Diskriminierung und Schikane erlebt hat: An jedem Kiosk war der „Stürmer“ mit judenfeindlichen Karikaturen und Texten zu sehen. In der Doventor-Realschule litt er unter Lehrern und Mitschülern. Er musste den Hitlergruß erwidern, mit dem die Lehrer den Klassenraum betraten. Am Buurmans Institut, einer anschließend besuchten Privatschule, durfte er als Jude nicht mehr in der Fußballmannschaft spielen. 1936 schickten ihn seine Eltern auf eine jüdische Realschule in Frankfurt am Main, da er in Bremen als Jude keine allgemeinbildende Schule mehr besuchen durfte. Auch in Frankfurt zog häufig die SA grölend durch die Straßen und sang antisemitische Hetzlieder, vor allem das Horst-Wessel-Lied.
1936 wurde Heinrich Bialystock vom Hanseatischen Sondergericht wegen „unerlaubten Verkaufs von parteiamtlichen Uniformen“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sich in seinem Sortiment zwei kurze schwarze Hosen befunden hatten, die das Gericht als Teil der „offiziellen Uniform“ der Hitlerjugend wertete. Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe wurde er als Vorbestrafter in „Schutzhaft“ genommen, aus der er im Juni 1938 auf Betreiben seiner Frau unter der Bedingung freigelassen wurde, Deutschland innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Am 24.6.1938 reiste Heinrich Bialystock in die Niederlande, wo seine Eltern und seine Geschwister lebten. Franja blieb zunächst mit den Kindern in Bremen zurück, um das Haus zu verkaufen und das Geschäft abzuwickeln. Heinrich Bialystock musste die Niederlande nach Ablauf seines Besuchervisums wieder verlassen und hielt sich danach in Belgien auf.
Franja Bialystock erhielt die Erlaubnis für einen Ausverkauf. Da in den drei Schaufenstern große gelbe Plakate mit der Aufschrift „Jüdisches Geschäft“ gut sichtbar angebracht werden mussten, blieb jedoch die Kundschaft aus, und der Warenbestand im Wert von 57.000 RM verringerte sich nicht mehr.
Der Vertrag über den Verkauf des Hauses durch Franja Bialystock kam bereits Anfang September 1938 zustande. Näheres über diesen Kauf kann man aus dem im Mai 2011 zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens C&A Brenninkmeyer erschienenen Ausstellungskatalog „C&A zieht an!“ erfahren, der, worauf das Vorwort hinweist, auch „erste Zwischenergebnisse“ zu der „Frage nach der Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus“ enthält. Der Katalog stellt fest, dass das Unternehmen „erheblich von der Verdrängung der Juden aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben“ profitiert habe. Der Erwerb des Wohn- und Geschäftshauses Am Brill 14 in Bremen wird als „besonders drastisches Beispiel“ für das Vorgehen von C&A angeführt. Das Unternehmen habe „keinen einigermaßen angemessenen Kaufpreis“ gezahlt, während der Verkaufsverhandlungen die Zusammenarbeit mit dem von Franja Bialystock engagierten Makler Adolf Herz wegen dessen „nichtarischer Abstammung“ abgebrochen und „dem Wunsch von Frau Bialystock, bis zur Genehmigung ihrer geplanten Ausreise mietfrei in ihrer alten Wohnung bleiben zu dürfen, ... ebensowenig entsprochen wie der Verlängerung ihres Mietvertrages, als sich ihre Ausreise verzögert“.
In der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10.11.1938 schlugen SA-Männer die Schaufensterscheiben ein, plünderten und verwüsteten den Laden. Franja Bialystock und die Kinder flüchteten am nächsten Morgen zu einer befreundeten Familie. Am Abend zwang die Polizei Franja, das Geschäft auf eigene Kosten mit Brettern vernageln zu lassen. Bis zur Behebung des entstandenen Schadens, hielt das Unternehmen C&A Brenninkmeyer als Erwerber einen Teil der Kaufpreissumme zurück.
Einige Tage nach der Pogromnacht mussten der fünfzehnjährige Martin Bialystock und ein weiterer Junge auf dem Jüdischen Friedhof in Hastedt die in der Pogromnacht in Bremen ermordeten Heinrich Rosenblum und Selma Zwienicki begraben, während die jüdischen Frauen einen großen Kreis um sie bildeten. Die erwachsenen jüdischen Männer waren zu diesem Zeitpunkt im KZ Sachsenhausen inhaftiert.
Ende 1938 flüchteten Martin und Miriam Bialystock in die Niederlande. Von der Mutter in die Nähe der Grenze gebracht, mussten sie – ohne Gepäck, Geld und Papiere – eine Stunde lang allein durch die Felder laufen, bis sie an ein jenseits der Grenze gelegenes Haus kamen, in dessen Nähe eine Tante auf sie wartete. In Den Haag wollte die Fremdenpolizei sie nach Deutschland zurückschicken, was durch die Intervention der Jüdischen Gemeinde verhindert wurde.
Am 9.2.1939 überwies Franja Bialystock über die Deutsche Golddiskontbank in Berlin 40.000 RM nach Antwerpen; die Bank berechnete auf den Transfer ein Disagio von 94%, so dass Heinrich Bialystock nur 2.400 RM erhielt. Die Firma Adler erlosch am 11.2.1939. Am 28.2.1939 verließ Franja Bialystock Bremen und begab sich illegal zu ihrem Mann nach Antwerpen; auf diese Flucht nahm sie ihre jüngste, 1912 geborene Schwester Rosa Bloch mit, die durch einen Sprachfehler behindert war. Die Tochter Miriam wurde aus Den Haag über die Grenze geschleust und stieß zu den Eltern. Martin Bialystock blieb in den Niederlanden und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er schloss sich der jüdischen Jugendbewegung an und trat mit der Jugend-Alijah in Verbindung, die für die Auswanderung junger Juden nach Palästina warb. Heinrich und Franja Bialystock hatten seit längerem geplant, mit den Kindern in die USA auzuwandern. Sie hatten bereits für die Familie die erforderlichen Bürgschaften (Affidavits) beschafft; da jedoch die Quote für amerikanische Visa beschränkt war, mussten sie noch unbestimmte Zeit warten. Franja Bialystock hatte bereits von Bremen aus die Möbel und weitere Einrichtungsgegenstände an einen in Ohio lebenden Verwandten expediert. Mit dem Entschluss ihres Sohnes, nach Palästina auszuwandern, waren die Eltern nicht einverstanden. Als er sich endgültig entschieden hatte, teilte er ihnen im März 1940 mit, wann der Zug, mit dem er nach Marseille fuhr, in Antwerpen halten sollte. Eltern und Schwester waren am Bahnhof, und die Eltern begleiteten ihn im Zug bis Brüssel; keiner war in der Lage, ein Wort zu sprechen. In Brüssel übergaben ihm die Eltern persönliche Briefe mit Ratschlägen für sein Leben und einen Koffer mit guten Kleidungsstücken.
Heinrich, Franja und Miriam Bialystock hielten sich mit Rosa Bloch in Antwerpen zuletzt unter der Adresse Van Leriusstraat 43 auf. Dort wurden sie alle von der Gestapo verhaftet und in das Sammel- und Durchgangslager Mechelen (Malines) gebracht. Am 1.9.1942 wurden sie von dort mit dem Transport VII unter Bewachung der SS nach Auschwitz-Birkenau deportiert und nach der Ankunft ermordet.
Martin Bialystock gelangte mit der Jugend-Alijah über Marseille und Beirut nach Palästina. In der Hoffnung, seinen Angehörigen helfen zu können, schloss er sich dort als Freiwilliger den britischen Truppen an, kämpfte in Nordafrika (El Alamein und Tobruk), und in Italien (bei der Landung in Salerno und – nach dem Anschluss der britischen Regimenter an die 5. US-Army – in Monte Cassino).
Am 9.11.2009 sprach er am Mahnmal für die Bremer Opfer der Reichspogromnacht und war Ehrengast bei der Nacht der Jugend im Bremer Rathaus. Er lebte in der Nähe von Tel Aviv. 2013 starb seine Frau Rachel, eine Auschwitz-Überlebende. Martin und Rachel Bialystock bekamen zwei Töchter, sechs Enkel und zwölf Urenkel. Ihrer ältesten Tochter gaben sie den Namen Miriam.
Michael Cochu (2015)
Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E4763, 4,54-E10486, 4,54-E12058
„Jodenregister“ der Stadt Antwerpen
Yad Vashem: The Central Database of Shoah Victims’ Names
Martin Bialystock, Bericht, in: Inge Marßolek u. Wiebke Davids (Hrsg.), „Man hängt immer zwischen Himmel und Erde ...“. Jüdische Emigrantinnen und Emigranten (1933-45) aus Bremen berichten, Bremen 1997, S.53-66
Draiflessen Collection (Hrsg.), C&A zieht an! Impressionen einer 100-jährigen Unternehmensgeschichte. Ausstellungskatalog (2011), Vorwort u. S.101-103
Samuel Bloch, Geschichte der Familie Bloch – erzählt vom Enkel Dr. Samuel Bloch, Stuttgart, s. http://www.erinnerungundzukunft.de/index.php?id=153
Ein weiterer Stolperstein für Franja (Fraidel) Bialystock, geb. Bloch, liegt Am Marstall 14 in Hannover an der Stelle, wo sich früher in der Schillerstraße 41 Bäckerei und Wohnung ihrer Eltern befanden (s. http://www.erinnerungundzukunft. de/index.php?id=153).
Radio Bremen hat 2013 einen Film zur Geschichte der Pogromnacht einschließlich eines Gesprächs mit Martin Bialystock gesendet. (s. http://www.radiobremen.de/wissen/geschichte/ns-zeit/pogromnacht164.html )
Abbildungsnachweis: Privatbesitz
Weitere Informationen:
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