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Berta Nordsiek, *1920

eingewiesen in die "Heilanstalt" Meseritz
ermordet 4.1.1944


Luisental 5/ neben Einfahrt Seniorenresidenz
Bremen-Horn-Lehe


Luisental 5/ neben Einfahrt Seniorenresidenz - Weitere Stolpersteine:


Berta Nordsiek


Berta Nordsiek wurde am 10.2.1920 in Bremen als zweites von drei Geschwistern geboren. Nach Informationen der Mutter sei Berta „stets sehr ‚nervös’“ gewesen, ihre geistige Behinderung habe sich schon vor dem Schuleintritt gezeigt. Ostern 1928 wurde das Mädchen im Haus Reddersen aufgenommen. Die Situation in der Familie wird zu diesem Zeitpunkt sehr problematisch gewesen sein. Der Vater war im Jahr zuvor wegen Trunksucht entmündigt, die Mutter Ende 1932 mit der Diagnose Schizophrenie in der Bremer Nervenklinik aufgenommen worden.

Nur zwei Jahre später musste die gerade 14-Jährige vor dem Erbgesundheitsgericht erscheinen. Auf die Frage, wie lange sie schon in der Anstalt sei, antwortete die Jugendliche: „Lange, ganz lange.“ Sie gehe auch zur Schule, habe aber im Moment kein Rechnen, sondern Waschen. Laut ärztlichem Gutachten hatte Berta etwas lesen und schreiben gelernt, ihre Schulleistungen seien aber wegen ihres Mangels an Konzentrationsfähigkeit sehr dürftig. Im Handarbeitsunterricht war sie „freudig und fleißig bei der Arbeit“, beim Turnen „unruhig und zappelig, jedoch ziemlich gewandt“ und freudig beim Spiel.

Ihre Gemütslage, so der Arzt, sei „durch übersteigerte Lustigkeit gekennzeichnet.“ Sie lache eigentlich immer, meistens aus „nichtigsten Gründen“. Vor dem Hintergrund der familiären Situation und ihrer eigenen Einschränkungen konstatierten die Richter des Erbgesundheitsgerichts, dass es „sich um angeborenen Schwachsinn“ handele. Daraufhin wurde Berta Nordsiek am 2.8.1934 in die Frauenklinik eingewiesen und die Zwangssterilisation durchgeführt.

Fast genau fünf Jahre darauf erfolgte die Auflösung des Hauses Reddersen. Hier hatte Berta elf Jahre gelebt und musste nun ebenso wie ihre Mitbewohner in die Bremer Nervenklinik übersiedeln. Die dort angelegte und erhalten gebliebene Krankenakte enthält keine Aufzeichnungen, nur einzelne Berichte und Briefe, weil die ehemalige Haus Reddersen Bewohnerin nicht als reguläre Patientin der Nervenklinik galt. Darunter findet sich auch die Abschrift eines „Meldebogens“ zur „planmäßigen Erfassung“ aller Anstaltspatienten.

Berta sei eigensinnig, lautete das Urteil der Bremer Ärzte, das Auffassungsvermögen fehle ihr ganz, zudem sei sie willensschwach, kontaktunfähig und zu keiner selbständigen Arbeit fähig. Sie fege und bohnere unter stetiger Aufsicht und Kontrolle, erbringe aber keine „nennenswerte Arbeitsleistung“.

Wenige Monate zuvor war Bertas Mutter Charlotte Nordsiek zusammen mit 39 anderen Patienten aus der Bremer Nervenklinik in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bei Oldenburg verlegt worden. Für Wehnen ist der drastische Anstieg der Todeszahlen (von 9,3 % im Jahr 1938 auf 24 % im Jahr 1942) belegt. Diese Entwicklung war eine Folge der systematischen Absenkung der Verpflegungssätze und der verheerenden Zustände auf den völlig überfüllten Stationen. Auch Charlotte Nordsiek gehörte zu den Opfern. Sie starb am 7.2.1943 im Alter von nur 47 Jahren.

Unterstützung bekam Berta allein von ihrer drei Jahre jüngeren Schwester. Diese besuchte sie zu Weihnachten, zu ihrem Geburtstag und kümmerte sich, als ein Koffer verloren ging, in dem sich Gegenstände befanden, die „ihre einzige Freude“ waren. Als die Mutter in Wehnen starb, bat sie die Direktion der Nervenklinik „inständig […] meine Schwester davon nicht in Kenntnis zu setzen“ und darauf zu achten, dass sie die Traueranzeige in der Zeitung nicht sehe.

Nach der Bombardierung der Bremer Nervenklinik im November 1943 musste Berta Nordsiek mit über dreihundert Mitpatienten eine lange Zugfahrt in die Anstalt Meseritz-Obrawalde antreten. Unter den Reisenden befand sich auch ihr Vater Friedrich Nordsiek, der seit Anfang 1939 in der Bremer Nervenklinik untergebracht war. Er starb am 26.6.1944 in der Anstalt, in der systematisch gemordet wurde. Seine Tochter Berta überlebte die Aufnahme nur wenige Wochen. Sie starb am 4.1.1944 im Alter von 23 Jahren.

Gerda Engelbracht (2017)

Informationsquellen:
Archiv Klinikum Bremen-Ost: Krankenakten Berta Nordsiek, Friedrich Nordsiek
Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg REP 8184: Krankenakte Charlotte Nordsiek
StA Bremen 4,130-2, 1934/161, Akte des Erbgesundheitsgerichts, Bitte um Besuchserlaubnis der Schwester von Berta Nordsiek 1941

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Euthanasie" / Zwangssterilisation
Glossarbeitrag Haus Reddersen