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Rudolf Grimminger, *1922

einewiesen in die "Heilanstalt" Erlangen
tot 15.11.1944


Luisental 5/ neben Einfahrt Seniorenresidenz
Bremen-Horn-Lehe


Luisental 5/ neben Einfahrt Seniorenresidenz - Weitere Stolpersteine:


Rudolf Grimminger


Rudolf Grimminger kam am 23.9.1922 in Bremen zur Welt. Er und sein Zwillingsbruder, der im Alter von fünf Monaten starb, wurden in schwierige soziale Verhältnisse hineingeboren. Als die bis dahin unverheiratete Mutter 1924 heiratete, gab sie eine vierjährige Tochter zur Adoption frei, während Rudolf zunächst im Bremer Kinderheim an der Talstraße Aufnahme fand. Da der Zweijährige unter „Krämpfen“ litt, erfolgte schon bald seine Überweisung in das Haus Reddersen. Über sein Leben in der bremischen Pflege- und Erziehungsanstalt für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche sind nur wenige Informationen überliefert. So notierte der Vorsteher Georg Wrede 1929, dass Rudolf inzwischen laufe und allein esse, die Sprache sich zu entwickeln beginne, er anhänglich sei und gern mit den anderen Kindern spiele.

Aus einem Bericht, den sein Nachfolger Hermann Geerken im Sommer 1937 schrieb, wird deutlich, dass Rudolf trotz geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen in der Einrichtung gefördert wurde: Der Junge macht auch im letzten Halbjahr weitere langsame Fortschritte in der Schule [...]. In Folge des starken Konzentrationsmangels ist es sehr schwer, ihn zu fördern. Es fehlt bei ihm nicht an gutem Willen. Wenn er einmal für einige Zeit energisch zur Mitarbeit angehalten wird, tritt ihm vor Anstrengung und Erregung der Schweiß auf die Stirn. Er ist überhaupt sehr nervös. Wird er aufgerufen, fährt er zusammen. Er ist leicht gereizt und jähzornig. […] Dass er im Übrigen geistig leidlich regsam ist, beweist er im Anschauungsunterricht, dem er mit ziemlichen Interesse folgt.

Wie viele seiner Mitbewohner war der knapp 15-Jährige im April 1937 vor dem Erbgesundheitsgericht angeklagt und zur zwangsweisen Unfruchtbarmachung verurteilt worden. Im März 1938 musste Rudolf Grimminger das Haus Reddersen, in dem er seit frühester Kindheit lebte und das ihm sicher zur Heimat geworden war, verlassen und in das Gertrudenheim im Kloster Blankenburg bei Oldenburg ziehen. Der Aufenthaltsort seines Vaters war unbekannt, die Mutter, die mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in Bremen lebte, hatte den Kontakt zu ihrem Sohn schon lange Zeit zuvor abgebrochen.

Im Gertrudenheim übernahm Rudolf „kleine Dienste“ bei der Hausarbeit, indem er z.B. die leeren Teller von den Tischen abräumte oder den Besen holte. „Es scheint ihm auch Freude zu machen, wenn er kleine Handreichungen vollbringen kann“, lautete ein Eintrag in seiner Krankenakte Ende August 1939. „Er leidet nur noch sehr an seiner krankhaften Nervosität, die sich im unruhigen umherwandern im Zimmer oder durch rennen auf dem Flur äussert.“ Außerdem zerkratze er sich immer wieder die Nase, und es sei nur mit Zwangsmitteln möglich, ihn davon abzuhalten.

Als das Gertrudenheim im September 1941 aufgelöst wurde, musste der 18-Jährige abermals weichen. Zusammen mit vierzig Mitbewohnern trat er eine lange Reise nach Erlangen an. Im Allgemeinen verhalte er sich ruhig, meldeten die Mitarbeiter der dortigen Heil- und Pflegeanstalt dem Bremer Jugendamt auf Nachfrage. Er spreche nur, wenn er angeredet werde. Das Gesagte sei „aber vollkommen unverständlich“. Im Januar 1943 hieß es zudem: „Er ist als nicht erziehungs- und bildungsfähig zu betrachten.“

Eine derartige Einschätzung kam zu diesem Zeitpunkt einem Todesurteil gleich. Denn in der bayerischen Anstalt fand seit Ende 1942 der sogenannte Hungererlass Anwendung. In ihm hatte das Bayerische Innenministerium verfügt, dass diejenigen, die keine „nutzbringende Arbeit leisten oder [nicht] in therapeutischer Behandlung stehen“, ebenso wie die bildungsunfähigen Kinder schlechter verpflegt werden sollten.

Laut überlieferter Gewichtstabelle wog der 1,53 m große junge Mann bei seiner Aufnahme in Erlangen 36 kg. Die Umstellung von Normal- auf Siechenkost im Jahr 1943 hatte einen ständigen Gewichtsverlust zur Folge. Als Rudolf Grimmiger kurz nach seinem 22. Geburtstag am 15.11.1944 starb, wog er noch 28 kg. Die offizielle Todesursache lautete: Kachexie (sehr starke Abmagerung).

Gerda Engelbracht (2017)

Informationsquellen:
Archiv Klinik für Psychiatrie, Sucht, Psychotherapie und Psychosomatik, Erlangen: Krankenakte Rudolf Grimminger
Engelbracht, Gerda: Das Haus Reddersen. Zur Geschichte der ersten bremischen Pflege- und Erziehungsanstalt für geistig
und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche, Bremen 1995
Dieselbe: Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt (Main) 2014

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Euthanasie" / Zwangssterilisation
Glossarbeitrag Haus Reddersen